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Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 75<br />

Zürich beherbergte, war Siegfried in seinem Handeln nicht geleitet vom Mitgefühl<br />

<strong>für</strong> den einzelnen Fürsorgefall. Hauptsächlich angetrieben vom Gedanken der Umformung<br />

und Anpassung von Menschen an die bürgerlichen Normen eines sesshaften<br />

Lebens, interessierte er sich nur <strong>für</strong> «ganze» Familien. Die Übernahme von<br />

Einzelfällen lehnte er, wie bereits erwähnt, bisweilen sogar ab, wenn damit kein<br />

Herankommen an die entsprechende Familie verbunden war. Seine Urteile über die<br />

Fahrenden waren von eindeutig diskriminierendem Charakter. Dass sich seine<br />

schlechte Meinung über die Fahrenden generell auch auf die einzelnen Kinder<br />

übertrug, überrascht kaum. Siegfried spielte eine aktive und ohne Zweifel wichtige<br />

Rolle bei der Stigmatisierung einer ganzen Kultur.<br />

Zentralsekretär A. Ledermann und Nationalrat E. Frei, Präsident der Stiftungskommission,<br />

stellten sich 1963 voll und ganz hinter den «hochgeschätzten» ehemaligen<br />

Mitarbeiter und dessen Lebenswerk. Siegfried sei «ein Fürsorger von innerer Berufung<br />

und überragenden Fähigkeiten» und blicke auf eine «vielseitige und hingebende<br />

Tätigkeit zugunsten des benachteiligten Kindes» zurück. Er habe den Grund gelegt<br />

und gefestigt <strong>für</strong> Einrichtungen der Jugendhilfe, «die heute selbstverständlich erscheinen».<br />

223 Im «Hilfswerk», seinem «Lebenswerk», würden sich «sein Beruf als<br />

Fürsorger und seine besondere Neigung und Begabung <strong>für</strong> die Einzel<strong>für</strong>sorge» eindrucksvoll<br />

erfüllen. «Ungewöhnliche Arbeitskraft und Arbeitsleichtigkeit», «<strong>für</strong>sorgliche<br />

Liebe, Opferbereitschaft und persönliche Anspruchslosigkeit» bestimmten <strong>für</strong><br />

seine Vorgesetzten Siegfrieds Wesen. 224<br />

Siegfrieds Persönlichkeit, soweit sie sich aufgrund der Akten fassen lässt, erscheint<br />

äusserst ambivalent und zwiespältig. Von seinen Vorgesetzten und Mitarbeitern und<br />

von anderen sozialen Institutionen wurden sein überdurchschnittliches Engagement,<br />

seine erzieherischen Fähigkeiten und seine «innere Berufung» gelobt. In seinen persönlichen<br />

Notizen und in der Erinnerung vieler Mündel hingegen wird eine eher<br />

zynische, machtbewusste und von ihrer Aufgabe geradezu besessene Person sichtbar.<br />

Gerade die «innere Berufung» erscheint äusserst problematisch, gab sie ihm doch die<br />

<strong>für</strong> die Verfolgung seiner Ziele nötige Energie, verhinderte aber zugleich jegliche<br />

distanzierte, nüchterne Betrachtung. Eine religiöse Komponente, die sich aber in den<br />

Akten nur sehr vage und indirekt fassen lässt, scheint diese «innere Berufung» noch<br />

verstärkt zu haben.<br />

Siegfried sah sich in der Rolle eines staatlich beauftragten Sanierers, der mit Leidenschaft<br />

Menschen verfolgte, die nicht seinen Vorstellungen eines gutbürgerlichen Lebens<br />

entsprachen. Neben dieser als staatspolitische Berufung verstandenen Motivation<br />

muss auch Antiziganismus mitgespielt haben – jedenfalls nur zum geringsten<br />

Teil das Bedürfnis, <strong>für</strong>sorglich tätig zu sein.<br />

Von Alfred Siegfried zu seiner Nachfolgerin Clara Reust sind kaum Veränderungen<br />

spürbar. Reust kam vom Seraphischen Liebeswerk Luzern, wo Siegfried sie kennengelernt<br />

hatte, zur Pro Juventute, und wirkte dort als dessen rechte Hand. Nachfolgerin<br />

im «Hilfswerk» wurde sie aber bezeichnenderweise erst, als der da<strong>für</strong> eigentlich<br />

Vorgesehene, Dr. Peter Doebeli, nach kurzer Zeit die Stelle als Leiter der Abtei-<br />

223 Siegfried, Kinder, 1963, 3; vgl. auch Brief von Siegfried an Ledermann, 20. Febr. 1963, BAR,<br />

J II.187, 1239.<br />

224 Siegfried, Kinder, 1963, 4; in den Mitteilungen des Hilfswerks Kinder der Landstrasse Nr. 44,<br />

Oktober 1960, heisst es: «Das Hilfswerk ist, obwohl es teilweise vom Bund finanziert und von<br />

der Stiftung Pro Juventute patronisiert wird, so darf man mit Fug und Recht sagen, das segensreiche<br />

Lebenswerk von Dr. Alfred Siegfried.» (S. 2)

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