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Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 19<br />

3. Das «Hilfswerk <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse»<br />

3.1. Zur Vorgeschichte<br />

Mit der Entstehung der territorialen Staaten und dem Aufkommen des modernen<br />

Verwaltungsstaates wuchs das Misstrauen der Behörden gegenüber den herumziehenden<br />

Einzelpersonen, Familien und Sippen, weil sich diese nur schwer erfassen<br />

und kontrollieren liessen. 15 Immer häufiger wurden die Fahrenden deshalb nur noch<br />

als Übel wahrgenommen. «Vagantität», wie das Herumziehen in amtlichen Dokumenten<br />

genannt wird, war zu bekämpfen und möglichst zu beseitigen.<br />

Nichtsesshaftigkeit war die traditionelle Lebensweise von Familien- und Sippenverbänden,<br />

die seit Generationen ein Leben auf der Strasse führten. Die Geschichte der<br />

in der Schweiz umherziehenden Fahrenden ist weitgehend unerforscht, so dass hier<br />

keine Aussagen über die Entstehung und Entwicklung ihrer Kultur gemacht werden<br />

sollen. 16 Daneben wanderten auch Angehörige der Unterschichten, z. B. verarmte<br />

Kleinbauern, Dienstboten, bestimmte Handwerker und Taglöhner, temporär oder auf<br />

Dauer. Immer wieder kam es in der Schweiz im Lauf der Geschichte zur obrigkeitlichen<br />

Verfolgung der Wandernden. Davon zeugen die zahlreichen Bettelmandate der<br />

eidgenössischen Orte und Tagsatzungen. Um der «Plage» Herr zu werden, wurden<br />

eigentliche «Betteljagden» veranstaltet, bei denen die Wandernden und Fahrenden<br />

zusammengetrieben und abgeschoben, im Wiederholungsfall auch abgeurteilt und<br />

auf Galeeren verschickt wurden. Solche «Betteljäginen» fanden in einzelnen eidge-<br />

15 Die historischen Teile stützen sich auf folgende Arbeiten: Egger, Franz, Der Bundesstaat und die<br />

Zigeuner in der Zeit von 1848 bis 1914, in: Studien und Quellen 8 (1982) 49–71; Meyer, Clo,<br />

«Unkraut der Landstrasse». Industriegesellschaft und Nichtsesshaftigkeit: am Beispiel der Wandersippen<br />

und der schweizerischen Politik an den Bündner Jenischen vom Ende des 18. Jahrhunderts<br />

bis zum Ersten Weltkrieg, Disentis 1988 [Liz. Uni Zürich 1983]; Huonker, Thomas, Vorgeschichte,<br />

Umfeld, Durchführung und Folgen des «Hilfswerks <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse».<br />

Studie im Auftrag des Eidgenössischen Amtes <strong>für</strong> Kulturpflege, [unveröff. Manus. 1987]; Ders.,<br />

Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe, dokumentiert v. Thomas Huonker,<br />

hg. von der Radgenossenschaft der Landstrasse, Zürich 2 1990; Meier, Thomas / Wolfensberger,<br />

Rolf, Heimatlose und Vaganten. Zur Sozialgeschichte der Nichtsesshaften. Die Liquidierung<br />

einer devianten Bevölkerungsgruppe in der Homogenisierungsphase der bürgerlichen Gesellschaft<br />

im 19. Jahrhundert in der Schweiz [unveröff. Lizentiatsarbeit] Bern, 1986; Dies., «Eine<br />

Heimat und doch keine». Heimatlose und Nicht-Sesshafte in der Schweiz (16.–19. Jh.), [Diss.<br />

Bern] Zürich 1998 [im Druck].<br />

16 Im Schweizerischen Idiotikon, dem massgeblichen schweizerdeutschen Wörterbuch, fehlt ein<br />

Eintrag zu «jenisch», und im Grimmschen Wörterbuch heisst es dazu lediglich: «Jenisch, adj. der<br />

gaunersprache angehörend: ‹dasz er glauben darf, die jänische sprache so gut wie mancher<br />

schlechter gauner zu verstehen›. J. Paul, Kom. anh. zum Tit. 1, 108 mit der note: ‹so nennt man in<br />

Schwaben die aus fast allen sprachen zusammengesetzte spitzbubensprache›.» (Grimm, Wörterbuch,<br />

Bd. 10, Sp. 2310) Das genaue Zitat findet sich in: Paul, Jean, Komischer Anhang zum<br />

Titan, in: Ders., Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 3, Art. 12, Frankfurt a. M. 2 1996, 922; laut Wolf,<br />

Siegmund A., Wörterbuch des Rotwelschen. Deutsche Gaunersprache, Mannheim 1956, 144f.,<br />

bedeutet «jenisch» «klug, gescheit» und gehe zurück auf eine zigeunerische Wurzel; so auch<br />

Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. Elmar Seibold, Berlin u. a.<br />

23 1995, 411.

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