Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 79<br />
zig Kinder, die von vier Elternpaaren stammten, das älteste war bei der Übernahme<br />
16 Jahre alt, die jüngsten lagen noch in den Windeln. «Bei denen, die bereits am<br />
Ende des Schulalters standen, hat die Nacherziehung nicht mehr viel ausrichten können;<br />
der älteste Bub lief überall davon und verfiel, etwas älter geworden, der Trunksucht;<br />
seine um 2 Jahre jüngere Schwester schien sich zuerst recht erfreulich anzulassen,<br />
verfiel dann aber im Alter von etwa 20 Jahren wieder völlig der Verwahrlosung<br />
und heiratete einen Fahrenden.» Von den übrigen 18 waren aber zu<br />
diesem Zeitpunkt immerhin 16 sesshaft, «ein schwachsinniges Mädchen, das sich<br />
nach einigen ‹Umwegen› anständig verheiratete und zu guten Hoffnungen berechtigte,<br />
ist dann wieder vom rechten Weg abgekommen, ohne allerdings wieder mit<br />
dem fahrenden Volke zusammenzustossen. […] Dementsprechend müssen wir hier<br />
nur noch einen einzigen völligen Versager buchen, einen heute 35jährigen Mann, der<br />
während der ganzen Jugendzeit die allergrössten Schwierigkeiten bereitete, verschiedene<br />
Diebstähle verübte und aus Rachsucht ein Haus in Brand steckte. 3 ‹Rückfälle›<br />
bei 20, ferner 1 Versager wegen angeborener Geisteskrankheit und 1–2 Unsichere,<br />
die infolge ihrer Debilität ständig unter Fürsorge stehen sollten, das ist gewiss<br />
kein übles Ergebnis, hauptsächlich dann nicht, wenn wir berichten können, dass die<br />
Lebensführung von mindestens Fünfen das Prädikat ‹durchaus gut› verdient.»<br />
Bei Sippen mit einem höheren Anteil an «Anormalen» sei das Resultat allerdings<br />
weniger gut. Zudem habe hier die zuständige Vormundschaftsbehörde «ein seltenes<br />
Verständnis <strong>für</strong> die Wichtigkeit unserer Aufgabe» gezeigt. Bei einem anderen, grösseren<br />
Stamm könnten kaum 25% als geistig normal bezeichnet werden, während sich<br />
bei den übrigen «Debilität, Imbezillität und sogar Kretinismus in erschreckender<br />
Weise bemerkbar» mache. Hier sei Fürsorge bis ins reife Alter notwendig, sonst<br />
komme es immer wieder zu Rückfällen. «Und doch können wir an einleuchtenden<br />
Beispielen zeigen, dass auch geistig sehr schwach ausgestattete Menschen sich klaglos<br />
halten, wenn es gelingt, ihnen an Stelle der fehlenden eigenen Familie gütige<br />
Freunde zu finden, die immer wieder <strong>für</strong> sie einstehen.» 238 Doch genau dies gelang<br />
in den allerwenigsten Fällen.<br />
Die hauptsächlichen Rückfälle in die «Vagantität» würde vor allem die Gruppe der<br />
Schwachsinnigen und Minderbegabten betreffen, die labil und leicht zu verführen<br />
seien. Damit war der Kreis geschlossen: Die Erfolge gingen auf das Konto des<br />
«Hilfswerks», Misserfolge hingegen waren auf die Betroffenen selbst zurückzuführen.<br />
Kritik der ehemaligen Zöglinge wurde mit deren Schwachheit und Versagen<br />
erklärt, <strong>für</strong> die man einen Sündenbock, z. B. den Vormund, benötige. Der Mangel an<br />
Selbsterkenntnis und Gerechtigkeitsgefühl sei hier deutlich spürbar. Die positiven<br />
Urteile zum «Hilfswerk» hingegen würden fast ausnahmslos von Leuten stammen,<br />
«die es im Leben zu etwas gebracht haben». Viele würden ihre Beurteilung mit zunehmender<br />
Reife auch ändern. Keines der sesshaften, einigermassen lebenstüchtigen<br />
ehemaligen Mündel sehe es als Unglück an, aus seiner Familie entfernt worden zu<br />
sein. 239 In der Tat sind in den Akten Briefe von Zöglingen erhalten, in denen diese<br />
dem «Hilfswerk» danken. Häufig ist das Lob des «Hilfswerks» verbunden mit<br />
Selbstkritik und dem Vorsatz, es in Zukunft besser machen zu wollen (vgl. dazu<br />
auch Kap. 4). Manche dieser Jugendlichen, die sich in einer schwierigen Situation<br />
befanden, sich als minderwertig betrachteten, nach all ihren Erfahrungen Mühe<br />
238 Jahresbericht 1957/58, Hilfswerk <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse, BAR, J II.187, 1208.<br />
239 Siegfried, Kinder, 1963, 33–35.