Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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72 Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse<br />
und Aktennotizen, bekommt man den Eindruck eines unermüdlich Arbeitenden. Dabei<br />
darf nicht vergessen werden, dass er neben den «Kindern der Landstrasse» noch<br />
zahlreiche andere Aufgaben betreute. Als Leiter der Abteilung «Schulkind» fielen in<br />
sein Ressort die Betreuung von Auslandschweizerkindern, ganz besonders während<br />
des Zweiten Weltkriegs, die Organisation von Kur- und Ferienaufenthalten und<br />
anderes. 205 Die pingelige Genauigkeit, mit der alle Vorgänge registriert werden, lässt<br />
ihn als bürokratischen Pedanten mit ungeheurem Ordnungsdrang erscheinen, aber<br />
auch als Person, der es offenbar wichtig war, alle ihre Handlungen genau festzuhalten,<br />
sich zu rechtfertigen, aber auch sich wichtig zu machen. In seinen Rapporten<br />
schilderte er oft Tag <strong>für</strong> Tag, was er gearbeitet hatte. Im August 1957 machte er beispielsweise<br />
an acht Tagen Besuche bei insgesamt 21 Kindern, an zwei Tagen empfing<br />
er Besuche, den Rest verbrachte er im Büro mit Berichten, <strong>Text</strong>en, Briefen und<br />
Telefonaten, dazu kamen drei Besuche im Büro und drei Besuche und Besprechungen<br />
auswärts. 206<br />
Siegfried scheint den Sinn seines Lebens offensichtlich darin gesehen zu haben, der<br />
«Vagantität» ein Ende zu bereiten. Unermüdlich spürte er fahrende Familien auf,<br />
trieb Behörden an, sorgte <strong>für</strong> die Versorgung der Kinder, besuchte Heime und Pflegeeltern<br />
und machte Propaganda <strong>für</strong> das «Hilfswerk».<br />
Während er es verstand, gegenüber Gönnern, Behörden und Öffentlichkeit Sympathie<br />
und Unterstützung <strong>für</strong> sein Projekt zu gewinnen und Mitleid <strong>für</strong> die armen Kinder<br />
zu wecken, erscheint er in den persönlichen, internen Akten als zynisch, menschenverachtend<br />
und rücksichtslos. Noch relativ harmlos sind Bemerkungen wie<br />
eine Notiz nach seiner Rückkehr aus den Ferien: «6. [August] Aus den Ferien zurück.<br />
Es ist nichts besonderes vorgefallen. Meine Mündel waren so freundlich,<br />
Schwierigkeiten aufzusparen, bis ich wieder da wäre.» 207 Im Jahresbericht 1956<br />
bemerkte er, ein kleines Mädchen, «welches sich nicht sehr erfreulich zu entwickeln<br />
schien», sei an akuter Krankheit gestorben. 208 Soll eine solche Formulierung ausdrücken,<br />
dass der Tod eines solchen Mädchens nicht zu bedauern sei? Solche und<br />
ähnlich zwiespältige Formulierungen tauchen immer wieder auf. 209<br />
205 Im Archiv der Pro Juventute in Zürich existiert eine Mappe, betitelt mit «Berichte Hr. Dr. A.<br />
Siegfried 1925–1946, 47–», worin Siegfrieds monatliche Rapporte zuhanden des Zentralsekretärs<br />
gesammelt sind. Dass darin das «Hilfswerk» kaum erwähnt wird, hingegen zahlreiche andere<br />
Aktivitäten teils ausführlich geschildert werden, muss doch erstaunen. Die tatsächliche<br />
Bedeutung des «Hilfswerks» im Arbeitsalltag Siegfrieds spiegelt sich in diesen Berichten aber<br />
wohl kaum. Vielmehr ist angesichts dieses schon fast auffälligen Fehlens des «Hilfswerks» in den<br />
Berichten eher die Vermutung angebracht, dass seitens der Pro-Juventute-Leitung dieses quasi als<br />
Siegfrieds Angelegenheit betrachtet wurde, über die nicht rapportiert werden musste.<br />
Zumindest während der Kriegsjahre soll Siegfried rund ein Viertel seiner Arbeitszeit <strong>für</strong> das «Ferien-<br />
und Hilfswerk <strong>für</strong> Auslandschweizerkinder» aufgewendet haben, vgl. Bericht über die im<br />
Auftrag des Stiftungsrats der Stiftung «Schweizerhilfe» bei der Stiftung Pro Juventute im Dezember<br />
1944 gemäss Schreiben des Stiftungsrates vom 27. November 1944 durch E. Bodmer-Locher,<br />
Zürich, vorgenommenen Prüfungen und Einsichtnahmen, 2; PJA A 29 Stiftungskommissions-Sitzungen<br />
1945, Stiftungskommissionssitzung vom 14. Febr. 1945.<br />
206 Siegfried: Monatsrapport August 1957, Hilfswerk <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse, BAR, J II.187,<br />
1208.<br />
207 Ebda.<br />
208 Siegfried, Jahresbericht 1955 des Hilfswerkes <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse, 19. Jan. 1956,<br />
BAR, J II.187, 1201.<br />
209 «Wenn das Kind X.-T. [dreijährig, «rachitisch»] zum Leben zu schwach ist, so würde man ihm<br />
gewiss einen schlechten Dienst erweisen, wenn man es mit grossen Kosten aufpäppeln würde.»<br />
Brief Siegfried an Pfarrer L. in T. GR, 28. Febr. 1929, BAR J II.187, 457.