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Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 167<br />

«Als Vaganten werden Personen bezeichnet, die eine unsesshafte Lebensweise führen<br />

und meistens im Familien- oder Sippenverband herumziehen. Sie haben vielfach<br />

keinen eigentlichen Wohnsitz im Sinne des Gesetzes.<br />

Was die Nichtsesshaftigkeit anbetrifft, fallen darunter sowohl die eigentlichen Fahrenden<br />

(Vaganten), als auch die Jahrmarktleute. Die beiden Kategorien haben aber<br />

sonst nichts miteinander zu tun, bzw. sie vermeiden den Kontakt untereinander und<br />

beachten gegenseitig eine mehr oder weniger genaue Abgrenzung.<br />

Es besteht u. W. ein Unterschied zwischen den Fahrenden schweizerischer Nationalität<br />

und jenen des Auslandes. Abgesehen von vermutlich wenigen Ausnahmen<br />

ziehen die Schweizer Vaganten innerhalb unseres Landes von Ort zu Ort und<br />

kommen wohl selten über die Grenzen hinaus. Ob und wie weit sich ausländische<br />

Vagantenfamilien und -sippen oder Heimatlose in der Schweiz aufhalten oder nur<br />

bei uns durchreisen, entzieht sich unserer Kenntnis.<br />

Das ‹Hilfswerk <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse› wurde 1927 [sic!] geschaffen und bis<br />

vor einem Jahr durch den Begründer, Herrn Dr. A. Siegfried, geführt. Unser ‹Hilfswerk›<br />

ist eine besondere Aufgabe innerhalb der Stiftung Pro Juventute und wird im<br />

Zentralsekretariat geführt. Zweck dieses ‹Hilfswerkes› ist die Sesshaftmachung der<br />

Kinder fahrender Familien durch geeignete Placierungs- und Erziehungsmassnahmen,<br />

um dadurch das Übel der Vagantität – mit Hilfe der zuständigen Heimatbehörden<br />

– zu überwinden.<br />

Über die Bemühungen der Behörden zugunsten der Vaganten-Kinder wissen wir<br />

wenig Bescheid. Wir erhalten jedes Jahr von der Schweizerischen Eidgenossenschaft<br />

(Departement des Innern) eine Subvention. Der Kanton Graubünden leistet uns jährlich<br />

Beiträge und die zuständigen Heimatgemeinden (in verschiedenen Kantonen)<br />

bezahlen meistens 2/3 der Erziehungs-, Pflege- und Ausbildungskosten ihrer Bürger-<br />

Kinder, die unserer Fürsorge anvertraut sind.<br />

Sehr gerne sind wir zu näheren Auskünften bereit, wenn wir da<strong>für</strong> genügend Zeit<br />

aufwenden können, geht es uns doch um die soziale Anpassung und Eingliederung<br />

eines – wenn auch nicht sehr grossen – Teiles unserer Volkes.» 367<br />

Reust bestätigte damit die Ziele des «Hilfswerks», wie wir sie bereits kennen. Etwas<br />

seltsam wirkt die Feststellung, man wisse wenig über die Bemühungen der Behörden.<br />

Erklärbar ist diese Formulierung nur damit, dass Reust wohl an Aktivitäten ausserhalb<br />

des «Hilfswerks» dachte, nicht jedoch an die von Behörden und «Hilfswerk»<br />

gemeinsam getragenen. Was der Grund <strong>für</strong> die Beschäftigung der Geschäftsprüfungskommission<br />

mit dem «Hilfswerk» war und was mit dem Bericht passierte, ist<br />

zurzeit nicht beantwortbar, da die entsprechenden Akten der GPK noch nicht eingesehen<br />

werden konnten.<br />

Einen seltenen Einblick in die Rolle der Justiz im Zusammenhang mit dem «Hilfswerk»<br />

erlauben die überlieferten Akten im Fall von Frau Y., der vom «Hilfswerk»<br />

die fünf Kinder weggenommen worden waren. Nachdem sie sich jahrelang erfolglos<br />

bemühte hatte, bei der Pro Juventute Auskünfte über den Verbleib ihrer Kinder zu<br />

erhalten, beschritt sie 1959 den Rechtsweg. Sie strengte vor dem Staatsrat des Kan-<br />

366 EDI, Sekretariat, an das Zentralsekretariat der Pro Juventute, Seefeldstrasse 8, Zürich, 18. Mai<br />

1960, BAR, J II.187, 1202.<br />

367 Express-Brief Zentralsekretariat Pro Juventute, Hilfswerk <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse, Clara<br />

Reust, Fürsorgerin, an EDI, 23. Mai 1960, BAR, J II.187, 1202.

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