16.11.2012 Aufrufe

Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 33<br />

Siegfried begnügte sich bei seiner Arbeit nicht mit Hinweisen aus der Bevölkerung<br />

oder von Behörden, sondern suchte überall aktiv nach Fahrenden. Als wesentliches<br />

Identifikationsmerkmal dienten ihm offensichtlich die Familiennamen. Wo er etwas<br />

erfuhr, schaltete er sofort die Behörden und Polizeistationen ein, um von diesen<br />

mehr Informationen zu erhalten oder um sie zum Handeln zu bewegen. An einzelnen<br />

Kindern war er in der Regel wenig interessiert, er wollte die ganze Familie mit möglichst<br />

allen Kindern erfassen. Auch aus diesem Grunde wurden Stammbäume angefertigt<br />

und überall Daten gesammelt. Aus Zeitungen wurden Meldungen ausgeschnitten,<br />

die mit den Fahrenden zusammenhingen. Lasen Siegfried oder Reust von<br />

einem Gerichtsverfahren, in das Fahrende involviert waren, forderten sie die entsprechenden<br />

Akten an. 54 Bisweilen bewarben sie sich bei einzelnen Gemeinden geradezu<br />

um die Vormundschaft über bestimmte Personen. 55<br />

Dieses gesamte Vorgehen muss als Verfolgung charakterisiert werden. Die Hartnäckigkeit,<br />

mit der insbesondere Siegfried bisweilen einzelnen Personen und Familien<br />

nachspürte, geht weit über das von einem Fürsorger oder Vormund zu erwartende<br />

Mass hinaus. Das «Hilfswerk» und die Pro Juventute waren damit aber nicht<br />

nur der verlängerte Arm der Behörden oder die Träger von Hilfsfunktionen, sondern<br />

im Gegenteil häufig die aktivere Seite, welche die Behörden zum Handeln anspornte.<br />

In Wirklichkeit verfolgte das «Hilfswerk» also kein auf den einzelnen Menschen bezogenes<br />

<strong>für</strong>sorgerisches Ziel. Die Absicht war eine klar ordnungs- und sozialpolitische,<br />

nämlich die Gesellschaft zu befreien vom «Übel» der als minderwertig betrachteten<br />

umherziehenden Familien und Sippen. «Aus der Erkenntnis heraus, dass<br />

das Herumziehen ohne festen Wohnsitz, das Vagieren mit Frau und Kind in unsern<br />

komplizierten modernen Verhältnissen an und <strong>für</strong> sich ein Übel ist und eine Quelle<br />

sich fortpflanzender Verwahrlosung, haben wir uns vorgenommen, einen möglichst<br />

grossen Teil der heranwachsenden Generation an eine sesshafte Lebensweise und an<br />

geregelte Arbeit zu gewöhnen», schrieb der Leiter des «Hilfswerks» zu dessen zehnjährigem<br />

Jubiläum. 56 In einem Jahresbericht, in dem Siegfried von einer praktisch<br />

vollständig erfassten Sippe berichtete, hielt er fest, dass von den 18 vom «Hilfswerk»<br />

weggenommenen Personen 16 sesshaft seien; nur «ein schwachsinniges Mädchen»,<br />

das sich nach einigen «Umwegen» anständig verheiratet und zu guten Hoffnungen<br />

berechtigt habe, sei dann wieder vom rechten Weg abgekommen, ohne allerdings<br />

wieder mit dem fahrenden Volke zusammenzustossen. «Und dieser Umstand<br />

54 Zur Bestrebung, ganze Familien zu erfassen, vgl. etwa den Eintrag vom 17. Juli 1946, Zusammenfassung,<br />

BAR J II.187, 963; vgl. z. B. die Meldung von der Verurteilung eines «Vaganten»<br />

im St. Galler Tagblatt vom 25. Okt. 1928, den Brief des «Hilfswerks» vom gleichen Tag an das<br />

Berner Korrektionsgericht mit der Bitte um die genauen Personalien, insbesondere auch, ob der<br />

Verurteilte Kinder habe («Unsere Anfrage geschieht im Interesse der Bekämpfung der Vagantität»)<br />

und den Brief des Sekretärs des Amtsgerichtes von Bern, der Siegfried am 2. Nov. 1928 als<br />

gewünschte Angaben Namen, Heimatort und Geburtsdatum des Verurteilten lieferte. BAR,<br />

J II.187, 1232; siehe auch unten, Anm. 170.<br />

55 Vgl. z. B. den Brief Reusts an die Gemeinde Leuggelbach GL vom 7. Juni 1963, BAR, J.II, 187,<br />

387. Reust hatte im Amtsblatt gelesen, dass dort Kinder mit einem Familiennamen, der auf Fahrende<br />

hinwies, unter Beistandschaft gestellt werden sollten, und anerbot sich, die Vormundschaft<br />

zu übernehmen.<br />

56 Siegfried, Zehn Jahre, 16f.; laut Siegfried waren die Fahrenden vor Jahrhunderten eingewandert,<br />

also eigentlich keine autochthonen Schweizer, wenn er schrieb: «Es müsste <strong>für</strong> einen Familienforscher<br />

reizvoll sein, die Quellen und Gänge aufzudecken, durch welche seit dem Dreissigjährigen<br />

Krieg ‹jenisches› Blut in unser Land geflossen ist, um im Laufe der Zeit in die verschiedensten<br />

Bergtäler zu sickern.» Vgl. auch Ders., Kinder, 1964, 14; Siegfried lieferte aber auch andere, z. T.<br />

widersprüchliche Erklärungen über die Herkunft der Jenischen.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!