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Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 135<br />

Siegfried wie auch Reust wussten, wie sie den bei B. K. ab und zu durchaus vorhandenen<br />

Widerstand gegen die Bevormundung rasch brechen konnten. Neben eigentlichen<br />

Nötigungen erfüllten auch Drohungen etwa mit einer erneuten Einweisung in<br />

eine Arbeitserziehungsanstalt, Warnungen oder Vorhaltungen ihren Zweck. Eine<br />

Aufklärung über seine Rechte, so es solche überhaupt gab, scheint B. K. von seinen<br />

Vormündern nie erhalten zu haben. Nicht mehr eruierbar ist, ob ihm die Verfügung<br />

der Vormundschaftsbehörde, ihn ein drittes Mal in Bellechasse <strong>für</strong> zwei Jahre zu<br />

verwahren, über seinen Vormund Clara Reust zugestellt worden ist oder eben nicht,<br />

wie er gegenüber den kantonalen Behörden, an die er gelangte, behauptete. Diese<br />

reagierten immerhin, indem sie vom Vormund Clara Reust Auskunft verlangten und<br />

von der Gemeinde die Akten anforderten. Sie liessen sich aber mit deren Studium<br />

reichlich Zeit und betrachteten die Sache schliesslich als erledigt, als B. K. nach<br />

einigen Monaten aus der Anstalt entlassen wurde.<br />

Obschon die Einweisungen in Arbeitserziehungs- oder andere Anstalten an sich erstaunlich<br />

reibungslos vonstatten gingen, wäre ein handfester Grund wie etwa eine<br />

tatsächliche Straftat zumindest in einem Fall <strong>für</strong> Clara Reust offenbar sehr willkommen<br />

gewesen. Jedenfalls drängte sie einmal eine Frau geradezu zu einer Anzeige<br />

wegen Diebstahls von 40 Franken. Eine eigentliche Kriminalisierung B. K.s misslang<br />

letztlich wohl nur deshalb, weil er sich höchstens kleinere Diebstähle zuschulden<br />

kommen liess.<br />

Das änderte allerdings wenig am Umstand, dass ein Mündel insgesamt faktisch<br />

rechtlos war und keinen anderen Beistand als den eigenen Vormund hatte, der gerade<br />

in den entscheidenden Momenten eher Ankläger und Richter als Anwalt war.<br />

Rechtliches Know-how und entsprechender Sukkurs war noch am ehesten unter den<br />

Mitinsassen in Bellechasse vorhanden. 277 Wohl kaum zufällig setzte sich B. K.<br />

einzig von dort aus gegen Anordnungen seiner Vormünder oder gegen die Heimatgemeinde<br />

zur Wehr. In schon fast professioneller Art wurden einmal die Mitteilung des<br />

Internierungsgrunds sowie ein Vormundwechsel gefordert sowie wiederholt Gesuche<br />

um vorzeitige Entlassung gestellt, wobei in einem Fall der ungewöhnliche Ton sowie<br />

die völlig andere, schwerlich von B. K. selbst stammende Handschrift den Adressaten<br />

rasch auffiel. Immerhin wurden Vormund und Behörden durch solche<br />

Aktivitäten in Trab gehalten, und einmal schaltete sich aufgrund einer Beschwerde<br />

B. K.s sogar eine kantonale Stelle ein. Möglicherweise waren es nicht zuletzt solche<br />

Formen der Solidarität unter den Insassen in Bellechasse, die B. K. später den<br />

Wunsch äussern liessen, lieber wieder dort als in einer halboffenen, ihm aber<br />

gänzlich unbekannten Anstalt interniert zu werden. 278 Anhand weiterer Fälle wäre<br />

den Fragen nachzugehen, ob – und wenn ja: wie es gerade unter den<br />

zuchthausähnlichen Verhältnissen in Bellechasse, wo besonders die älteren Mündel<br />

festgehalten wurden, aber auch andernorts zur Ausbildung von Gruppensolidaritäten<br />

Dass Alfred Siegfried verschiedentlich Mündel nötigte bzw. nötigen wollte, die Weiterführung<br />

der Vormundschaft über die Volljährigkeit hinaus selbst zu beantragen, ist auch andernorts bezeugt,<br />

vgl. Huonker, Fahrendes Volk, 155: «1942 wurde ich dort (Bellechasse) dann 20jährig. Da<br />

musste ich aufs Büro. Dort lag ein Vertrag bereit …»<br />

277 Vgl. dazu schon die Aussage von Robert H. in Huonker, Fahrendes Volk, 236.<br />

278 Entgegen seinem ausdrücklichen Wunsch wurde B. K. aber im «Kreckelhof» bei Herisau versorgt<br />

und nicht in Bellechasse, vgl. die entsprechende Verfügung des Waisenamts vom 1. Juni 1970<br />

(GA B., Vormundschaftsakten B. K.).

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