16.11.2012 Aufrufe

Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 137<br />

unmöglich wissen, dass er sich so schlecht entwickeln würde.» Alfred Siegfried<br />

zweifelte nicht an der «Hereditität dieses Knaben und seiner Familie», wobei B. K.<br />

sogar noch einigermassen gnädig beurteilt wurde. «Im Gegensatz zu seinen<br />

Brüdern» – der eine wird von Siegfried andernorts als «Lump», ein anderer als<br />

«Halblump» und wieder ein anderer als «Psychopath» bezeichnet280 – sei er<br />

immerhin «gutartig und lenkbar», schreibt Siegfried 1959 in einem Rechenschaftsbericht<br />

zuhanden der Vormundschaftsbehörde.<br />

Ins Bild des Debilen, Schwachbegabten und Kränklichen passte da nur, dass B. K.<br />

mit einem Herzfehler geboren worden und gegenüber Gleichaltrigen längere Zeit<br />

körperlich eher unterentwickelt war, sich ferner im Kindesalter zwei Armbrüche zuzog<br />

sowie ab dem Jugendalter an Rückenschmerzen infolge einer Scheuermannschen<br />

Erkrankung litt und in einem Gipsbett schlafen musste. Er war – wie sich schon<br />

seine Pflegemutter ausdrückte – ein «körperlich und geistig sehr schwaches Ding».<br />

Mehrmals wird er als labil und deshalb rasch verführbar bezeichnet. Dass er mit<br />

Geld nicht umgehen könne, taucht in den Akten ebenfalls immer wieder auf und ist<br />

gleichzeitig das Argument <strong>für</strong> ein lebenslanges strenges Lohnregime. Das wenige<br />

ihm jeweils zur Verfügung stehende Geld soll er in «schlechter Gesellschaft» mehr<br />

als einmal an einem einzigen Abend ausgegeben haben, was ihn dann veranlasse,<br />

von Arbeitskollegen oder Gaststättenbekanntschaften Geld zu borgen. Öfters wurde<br />

ihm sein Hang zu sporadisch bis periodisch ausgiebigem Alkoholgenuss zum Verhängnis,<br />

sei es, dass er polizeilich registriert wurde, die eine oder andere Stelle<br />

verlor oder sogar in der Folge in Anstalten eingewiesen wurde. «Für diese in die<br />

Wiege mitbekommene Art kann K. ja nichts», meinte sein letzter Vormund und regte<br />

die Internierung in einer Trinkerheilanstalt mit Antabus-Kur an, die – im Sinne der<br />

Anordnung – offenbar erfolgreich verlief.<br />

*<br />

Die Karriere, die B. K. nach der Wegnahme von seinen Eltern durchlief, war ebenso<br />

einzigartig wie typisch. Die vielen Stationen lassen sich grob unterscheiden in<br />

Aufenthalte in Familien auf der einen, in verschiedenen Heimen und Anstalten auf<br />

der anderen Seite.<br />

B. K. verbrachte seine ganze Kindheit, aber auch einen Teil seines Lebens als Jugendlicher<br />

und Erwachsener in unterschiedlichen Ersatzfamilien. Von den zahlreichen<br />

Plätzen, die meist mit einem Arbeits- oder Dienstverhältnis verbunden waren,<br />

hebt sich die Pflegefamilie, in die er als Dreieinhalbjähriger kam, in vielerlei Hinsicht<br />

ab.<br />

Nirgendwo sonst lebte er länger als bei seinen Pflegeeltern, nämlich immerhin siebeneinhalb<br />

Jahre von Oktober 1942 bis April 1950. Bei ihnen verbrachte er die Jahre<br />

seiner Kindheit, und sie waren am ehesten der Ersatz da<strong>für</strong>, was ihm im Alter von<br />

achtzehn Monaten weggenommen worden war. Bei allen immer wieder auftretenden<br />

Schwierigkeiten bestand zu ihnen eine starke Bindung, die auch nach der abermals<br />

gewaltsamen Trennung durch Siegfried nicht abriss. Diese Bindung äusserte sich<br />

u. a. darin, dass er als Jugendlicher regelmässig und auch noch als Erwachsener<br />

gelegentlich Feiertage, mitunter auch Ferien bei ihnen zubrachte. Besonders die<br />

Tage über Weihnachten und Neujahr, oft aber auch über Ostern und Pfingsten<br />

280 Diese Titulierungen – die Schwestern werden als «brav» oder «anständige Frau» bezeichnet –<br />

finden sich auf dem sich im Familiendossier befindlichen Original des Familienscheins!

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!