Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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62 Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse<br />
Es bestanden enge Verbindungen unter den Anhängern der rassenhygienischen Forschung<br />
im deutschsprachigen Raum. Einer der führenden Rassenhygieniker des Dritten<br />
Reiches war der Schweizer Psychiater Ernst Rüdin, seit 1912 schweizerischdeutscher<br />
Doppelbürger und von 1925 bis 1928 Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik<br />
in Basel. Ein weiterer führender Psychiater und Rassentheoretiker des<br />
Dritten Reiches war Robert Ritter. Er war Leiter der «Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen<br />
Forschungsstelle» in Berlin-Dahlem, wo genaue Genealogien<br />
und Karteikarten <strong>für</strong> alle Roma und «Zigeunermischlinge», wie Ritter die Jenischen<br />
nannte, im Gebiet von Grossdeutschland gesammelt und erstellt wurden. Ritter<br />
unterhielt Kontakte mit Schweizer Stellen und hatte auch Fahrende untersucht. Er<br />
wurde wie Jörger in den Schriften des «Hilfswerks» immer wieder erwähnt. 170<br />
Im nationalsozialistischen Deutschland wurden die rassenhygienisch minderwertigen<br />
Gruppen als «Asoziale», «Schwachsinnige» und «lebensunwertes Leben» verfolgt<br />
und schliesslich zu einem grossen Teil ermordet. Ritter forderte auch die Internierung<br />
und Kastration der zu «Parasiten entarteten» Jenischen und setzte das auch<br />
durch. 1933 wurde in Deutschland das Gesetz zur «Verhütung erbkranken Nachwuchses»<br />
erlassen, in dessen Folge auch Fahrende interniert, sterilisiert und später<br />
ermordet wurden. Einer der Autoren dieses Gesetzes war Ernst Rüdin gewesen.<br />
Bezüglich der grundlegenden Annahmen und Theorien über die Minderwertigkeit<br />
bestimmter Gruppen und der zu ergreifenden Massnahmen deckten sich die Ansichten<br />
der in dieser Gruppe vertretenen Psychiater und der ihnen nachfolgenden Fürsorger<br />
weitgehend. Es herrschte Übereinstimmung, dass gezielte Massnahmen notwendig<br />
seien, um das minderwertige Erbgut auszumerzen oder zu verbessern. Unterschiedliche<br />
Haltungen gab es hingegen, was die Form der Durchsetzung betraf. In<br />
Deutschland wie in der Schweiz und in anderen Ländern wurden Massnahmen wie<br />
Kindswegnahmen, Sterilisation, Psychiatrisierung und andere Formen der Einsperrung<br />
be<strong>für</strong>wortet. Die letzten und schlimmsten Formen, die Massensterilisation und<br />
schliesslich die Ermordung und weitgehende physische Ausrottung, wurden in der<br />
Schweiz aber nicht durchgeführt.<br />
Ein wichtiger Unterschied zwischen den Eugenikern und den allgemeinen Rassentheoretikern<br />
bestand darin, dass letztere eher davon ausgingen, eine Rasse sei nicht<br />
zu verbessern, sondern verfüge entweder über gute Anlagen – wie beispielsweise die<br />
Arier – oder über schlechte – wie beispielsweise die Juden. Die Eugeniker beschäftigten<br />
sich weniger mit dieser Art des Rassenbegriffes, denn die ebenfalls verachteten<br />
Roma waren ja Arier, und die Jenischen wurden als Germanen betrachtet. «Ihrer<br />
germanischen Herkunft zufolge trifft man unter ihnen recht viele hochgewachsene,<br />
schlanke Gestalten in aufrechter, gerader Haltung, vom blonden, germanischen<br />
Typ», schrieb etwa Jörger. 171 Die Eugeniker beschäftigten sich eher mit sozialen<br />
oder kulturellen Gruppen, die sie zwar als minderwertig, in der Regel aber nicht als<br />
170 Huonker, Fahrendes Volk, 69f.; zu Rüdin vgl. Weber, Ernst, Ernst Rüdin, in: Intellektuelle von<br />
rechts, hg. v. Aram Mattioli, Zürich 1995; zu Ritter vgl. Hohmann, Joachim S., Robert Ritter und<br />
die Erben der Kriminalbiologie. «Zigeunerforschung» im Nationalsozialismus und in Westdeutschland<br />
im Zeichen des Rassismus (Studien zur Tsiganologie und Folkloristik 4) Frankfurt<br />
a. M. u. a. 1991; Schmidt, Erich, Die Entdeckung der weißen Zigeuner. Robert Ritter und die Zigeunerforschung<br />
als Rassenhygiene, in: Hund, Wulf D. (Hg.), Zigeuner. Geschichte und Struktur<br />
einer rassistischen Konstruktion, Duisburg 1996, 129–152; Gharaati, M., Zigeunerverfolgung in<br />
Deutschland mit besonderer Berücksichtigung der Zeit zwischen 1918–1945, Marburg 1996,<br />
118–128.<br />
171 Jörger, Psychiatrische Familiengeschichten, 77.