Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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90 Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse<br />
pflegt wird, macht der Krankenschein eine halbe Odyssee mit, was einigen Wirbel<br />
verursacht. Bitten um einen Krankenschein sind wiederkehrende Ereignisse, die<br />
ihren schriftlichen Niederschlag in den Akten gefunden haben. Das nächste Mal ist<br />
dies auch schon am 21. Januar 1947 der Fall.<br />
Bei Siegfrieds Besuch am 5. Juni 1947 zeigt sich B. K. normal gewachsen. Er geht<br />
in die zweite Klasse, sollte aber laut der Pflegemutter besser die erste Klasse<br />
nochmals repetieren. Der mittlerweile siebeneinhalbjährige B. K. reagiert gemäss<br />
Siegfried tatsächlich immer noch wie ein Vier- oder Fünfjähriger. Als er aber<br />
vorschlägt, ihn in eine Anstalt zu stecken, wehrt sich die Pflegemutter mit<br />
Vehemenz. Sie möchte von der Freiplatzaktion der Pro Juventute überdies ein<br />
Ferienkind vermittelt bekommen.<br />
Ein Jahr später zeigt sich Siegfried «freudig erstaunt über die Entwicklung des Knaben»;<br />
sogar in der Schule gehe es, abgesehen vom Rechnen, merklich besser, was<br />
Siegfried bei einem persönlichen Test des Knaben bestätigt findet. Den Pflegeeltern<br />
schreibt Siegfried im folgenden Monat: «Sie haben da wirklich etwas Grosses geleistet<br />
und ganz bestimmt den rechten Weg eingeschlagen. Wenn ich denke, wie dumm<br />
und unzugänglich der Knabe noch vor etwa einem Jahr war, so scheint mir diese<br />
Änderung fast unglaublich.»<br />
Ende des Jahres präsentiert sich die Lage <strong>für</strong> Alfred Siegfried wieder eher düster:<br />
B. K. sei grob und frech gegenüber seinen Pflegeltern, und auch in der Schule gehe<br />
es nicht mehr so gut wie noch im Juni. B. K. selber sei der Ansicht, er müsse von der<br />
vierten in die dritte Klasse hinunterwechseln. Am 6. Januar 1950 schreibt Siegfried<br />
dem Lehrer B. K.s einen ausführlichen Brief, in dem es unter Anspielung auf B. K.s<br />
ältere Brüder u. a. heisst: «Die K. mögen sein, wo sie wollen, immer hat man seine<br />
liebe Not mit ihnen. Aufmunternd und einigermassen tröstlich ist nur die Feststellung,<br />
dass wenigstens die 3 Mädchen dieser Familie im Alter von 23, 18 und 10 Jahren<br />
bedeutend weniger Schwierigkeiten machen, ja sich sogar ganz gut aufführen<br />
und nett lernen. Es war ganz entschieden ein Missgriff, dass ich B. überhaupt in eine<br />
Familie gab. Ich konnte aber damals unmöglich wissen, dass er sich so schlecht entwickeln<br />
würde.» Der angesprochene Lehrer teilt Siegfrieds Einschätzung und be<strong>für</strong>wortet<br />
die Einweisung in eine Anstalt, denn B. K. müsse «eine spezielle Erziehung,<br />
wie Ausbildung zuteil werden …, soll er nicht eines Tages der Allgemeinheit zur<br />
Last fallen».<br />
Siegfried fordert einen Prospekt des «Johanneum Neu St. Johann, Heim und Schule<br />
<strong>für</strong> bildungsfähige Schwachbegabte» an und schreibt schon am 8. Februar 1950 den<br />
Direktor mit der Bitte um Aufnahme B. K.s an. Gleichentags teilt er seinen Entscheid<br />
den Pflegeeltern mit, die mit Brief vom 11. Februar um einen Aufschub<br />
bitten: «Alles geht vorbei, aber diese Trennung könnte ich nicht überwinden.» Am<br />
13. Februar bittet Siegfried den Pfarrer, der die Pflegefamilie seinerzeit vermittelt<br />
hat, um Unterstützung, gibt aber zu verstehen, dass er einverstanden sei, wenn die<br />
Schulbehörden mit einer Versetzung noch zuwarten möchten. Dennoch wird der<br />
Eintritt ins «Johanneum» auf den 25. April festgelegt. Die Pflegeeltern beklagen sich<br />
am 4. März, ihr Brief sei nicht beantwortet worden, sie würden aber einlenken, da<br />
sich B. K. «inzwischen wenig zusammen genommen habe», doch möchten sie ihn<br />
wieder zurück haben und sicher sein, dass ihm im Heim nichts geschehe. Wie üblich<br />
soll die Heimatgemeinde <strong>für</strong> zwei Drittel der Kosten (ca. Fr. 1000.–/Jahr)<br />
aufkommen.