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Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 87<br />

Zum voraus danke ich Ihnen <strong>für</strong> alle Bemühungen bestens und zeichne in aller<br />

Hochachtung<br />

Zentralsekretariat Pro Juventute<br />

sig. Dr. Siegfried.» 257<br />

Etwas mehr als einen Monat nach diesem Brief des Leiters des «Hilfswerks <strong>für</strong> die<br />

Kinder der Landstrasse», genau am 18. Juli 1940, wird der Knabe B. K. laut Rapport<br />

des Landjägerpostens N. SG in die katholische Privatkinderkrippe «St. Josef» in<br />

Lachen SZ eingeliefert, nachdem er gleichentags in der elterlichen Wohnung «abgeholt»<br />

worden war. Eine erste «Zuführung» B. K.s war gescheitert, da die Familie am<br />

polizeilich gemeldeten Ort nicht angetroffen worden war.<br />

Zum Zeitpunkt seiner Wegnahme von den Eltern ist B. K. eineinhalb Jahre alt. Das<br />

Kinderheim «St. Josef» war Siegfried von Sr. C. vom Arbeiterinnenheim Siebnen<br />

empfohlen worden. 258<br />

Fünf Tage nach seiner Einlieferung landet auf dem Bürotisch von Siegfried am Sitz<br />

der Pro Juventute am Seilergraben in Zürich ein Dankschreiben aus Lachen. B. K.<br />

habe anfänglich etwas Heimweh gehabt, und vom Arzt sei ein Herzfehler festgestellt<br />

worden. Ferner wird nachgefragt, ob das Kind bereits getauft sei; falls nicht, würde<br />

das schon «in Ordnung» gebracht; B. K. wäre da nicht der erste. Auf Drängen der<br />

Pro Juventute – wegen des Herzfehlers wird eine Not- oder «Bedingungstaufe» erwogen<br />

– wird B. K. nach zweimaligem Verschieben schliesslich getauft, und der<br />

Taufschein wird am 7. Dezember 1940 der Pro Juventute zugestellt, verbunden mit<br />

der Bitte um «einige Höschen und Laibchen [sic!]… vielleicht noch eine Büchse<br />

Ovomaltine» auf Weihnachten.<br />

In der Zwischenzeit sind Formalien wie die Meldepflicht erledigt, aber auch die<br />

Kostenfrage geregelt worden: Die Kinderkrippe verlangt <strong>für</strong> Kost und Logis Fr. 30.–<br />

im Monat, und der Heimatgemeinde des kleinen Mündels werden Fr. 90.– pro Semester<br />

in Rechnung gestellt – «wie <strong>für</strong> die anderen Kinder der gleichen Familie». Danach<br />

schweigen die Akten <strong>für</strong> elf Monate.<br />

Erst wieder im November 1941 fordert die Pro Juventute die Schuh- und <strong>Text</strong>ilkarten<br />

an, um das übliche Weihnachtsgeschenk – im vorliegenden Fall ein Paar Schuhe<br />

der Grösse 24 und ein Anzug – beschaffen zu können.<br />

Im Januar 1942, B. K. ist jetzt dreijährig, fordert die Pro Juventute vom Kinderheim<br />

«St. Josef» einen «ausführlichen Bericht» an. «Insbesondere bitten wir Sie», heisst<br />

es da, «auf die Frage einzutreten, ob der Knabe leicht erziehbar sei, oder ob verschiedene<br />

Anzeichen auf eine beginnende Schwererziehbarkeit schliessen lassen. Es meldete<br />

sich nämlich bei uns eine Familie zur Übernahme eines Bübleins, und da sich<br />

seine grösseren Geschwister recht nett entwickeln, dachten wir, auch B. könnte vielleicht<br />

zur Dauerversorgung in eine Familie plaziert werden.»<br />

257 Bei Zitaten werden im folgenden der Wortlaut und die Interpunktion exakt wie im Original<br />

wiedergegeben.<br />

258 Zu den Arbeiterinnenheimen, die meist <strong>Text</strong>ilfabriken angegliedert waren und in denen vorwiegend<br />

junge Frauen aus dem Tessin und Italien lebten, vgl. Pesenti, Yvonne, Beruf: Arbeiterin. Soziale<br />

Lage und gewerkschaftliche Organisation der erwerbstätigen Frauen aus der Unterschicht in<br />

der Schweiz, 1890–1914, Zürich 1988, 82–94.

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