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Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 187<br />

«Schoggitüüfel», wie ihn eine Jenische aus ihrer Kindheit in Erinnerung hat, so lange<br />

gewähren liess.<br />

Die historische Klärung so weit zu bringen wie eben möglich ist ein Gebot der Gerechtigkeit,<br />

und das allein würde als Begründung <strong>für</strong> die Forderung nach einer<br />

weiteren Klärung schon genügen. Soll das Unrecht nicht vergessen gehen und aus<br />

dem ganzen Vorgang etwas gelernt werden können, muss die Aktion «Kinder der<br />

Landstrasse» im kollektiven Gedächtnis verankert bleiben. Eine Klärung ist aber<br />

auch aus staatspolitischen Gründen, gerade in der heutigen Phase der politischen<br />

Verunsicherung vieler Schweizerinnen und Schweizer, unumgänglich. Der Umgang<br />

mit «Vaganten», wie sie in der Sprache des «Hilfswerks <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse»<br />

hiessen, ist ein Modellfall von Diskriminierung und Desolidarisierung. Er<br />

zeigt Eigenheiten schweizerischer Fürsorge-, Armen- und Minderheitenpolitik auf,<br />

die auch in der gegenwärtigen Gesellschaft mit ihren Problemen sehr wichtig sind.<br />

Niemand kann ausschliessen, dass wir morgen oder schon heute wieder mit Sichtund<br />

Handlungsweisen konfrontiert werden, die jenen des «Hilfswerks» sehr ähnlich<br />

sind. Die heute konstatierbare zunehmende Diskriminierung von Armut in allen ihren<br />

Formen scheint mir persönlich eine besonders bedenkliche Entwicklung zu sein.<br />

Gerade in dieser Beziehung sind die Fakten um die «Kinder der Landstrasse» ausserordentlich<br />

lehrreich. Und es waren schliesslich auch damals häufig die Mitbürger und<br />

Mitbürgerinnen von gleich nebenan, welche Kindswegnahmen und die Zerstörung<br />

jenischer Familien – vielfach eher stillschweigend als laut – be<strong>für</strong>worteten, gleichzeitig<br />

aber auch Bürgersinn, Heimatliebe oder gar Sorge <strong>für</strong> die Zukunft der Eidgenossenschaft<br />

demonstrierten und inszenierten.<br />

Die Arbeit an bisher in ihrer Gesamtheit nicht zugänglichen Akten des «Hilfswerks»<br />

hat zahlreiche neue Fakten und Gesichtspunkte erbracht. Sie erlauben eine zusätzliche<br />

Neubeurteilung des Ganzen, recht weit über das hinaus, was seit 1973, seit dem<br />

Ende des «Hilfswerks», auch sonst bekannt geworden ist. Dass im Hinblick auf das<br />

schon Bekannte gewisse Dinge aber immer wieder gesagt werden müssen, belegt,<br />

dass die Betroffenen sich seit 1973 nur teilweise Gehör in Politik und Öffentlichkeit<br />

verschaffen konnten, ein ebenfalls nicht ganz zufälliger Befund. Die Forderung nach<br />

einer breitangelegten interdisziplinären Untersuchung des Ganzen bleibt allerdings<br />

auch jetzt noch unerfüllt.<br />

Wichtig scheint mir zunächst, dass die Akten eine Klärung der Verantwortlichkeiten<br />

als möglich erscheinen lassen. Darauf haben nicht nur Betroffene und Beteiligte<br />

einen Anspruch, sondern auch die Öffentlichkeit. Die Aktion «Kinder der Landstrasse»,<br />

wie schon gesagt ein Modellfall von Diskriminierung und Desolidarisierung,<br />

kann nicht als sozusagen einmalige Entgleisung abgetan werden, <strong>für</strong> die unter<br />

dem «Druck zeitgenössischer Umstände» nur Leute verantwortlich gewesen wären,<br />

die Sympathien empfanden <strong>für</strong> in Nazikreisen praktizierte rassistische und eugenische<br />

Vorstellungen. Solche Überlagerungen fanden zwar statt, und entsprechende<br />

Propagandisten besonders aus den Reihen der Psychiatrie spielten ihre verheerende<br />

Rolle. Das ändert aber nichts daran, dass die Aktion hausgemacht war und typische<br />

Züge schweizerischer Armen-, Fürsorge- und Minderheitenpolitik aufwies. Das ist ja<br />

eigentlich bedeutend schlimmer und letztlich auch heute noch nicht erledigt. Bisher<br />

ebenfalls zu wenig berücksichtigt ist die Tatsache, dass der Bund zwar Verantwortung<br />

zu übernehmen hat, die beteiligten Kantone und Gemeinden aber nicht einfach<br />

alles auf den Bund abschieben können. Unter den mitverantwortlichen nichtstaatlichen<br />

Organsiationen kommt der Pro Juventute eine Sonderstellung zu, beteiligt sind

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