Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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142 Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse<br />
tisch nichts zu erfahren. Das verwundert nicht, war doch dort das Postgeheimnis aufgehoben,<br />
d. h. alle Briefe gingen über den Tisch des Direktors, und allfällige Kassiber<br />
landeten natürlich nicht in den Pro-Juventute-Akten. Genauere Angaben über die<br />
Verhältnisse in diesen Heimen und Anstalten wären sicherlich auch aus den entsprechenden<br />
Archiven zu gewinnen. Die wichtigsten Quellen sind hier aber zweifelsohne<br />
die mündlichen Aussagen von Betroffenen und Beteiligten selbst, also von ehemaligen<br />
Insassen oder Angestellten wie Direktoren, Ärzten, Sozialarbeitern, Seelsorgern<br />
und Wärtern. 286<br />
Wie oben schon erwähnt, erfolgten die Einweisungen in all diese Heime und Anstalten<br />
einzig und allein aufgrund entsprechender Entscheide der Vormünder. Die zuständigen<br />
Behörden der Heimatgemeinde gaben regelmässig erst im nachhinein ihr<br />
Plazet.<br />
*<br />
Eine Schlüsselrolle im zeitgenössischen schweizerischen Vormundschaftswesen<br />
spielten und spielen zweifelsohne die Heimatgemeinden bzw. deren Vormundschaftsbehörden.<br />
Sie waren bis in die jüngste Zeit hinein allein zuständig in Fürsorgefällen<br />
Heimatberechtigter, und zwar unabhängig davon, wo sich diese aufhielten.<br />
Aufgrund der föderalistischen Strukturen ist dies in einigen Kantonen bis heute<br />
ausschliesslich oder wenigstens teilweise der Fall, d. h. die Heimatgemeinde trägt<br />
sowohl die soziale Verantwortung wie die finanzielle Bürde, die mit Fürsorgefällen<br />
meist verbunden sind. Diese Situation ist je nachdem zweifelsohne wenig befriedigend<br />
und kann Gemeinden unter Umständen an den Rand ihrer finanziellen und<br />
personellen Kapazitäten bringen. Genau eine solche verfahrene Konstellation hatte ja<br />
seinerzeit Bundesrat Motta zu jenem Brief veranlasst, der als Initialzündung zur<br />
Gründung des «Hilfswerks <strong>für</strong> die Kinder der Lnadstrasse» gesehen werden kann. 287<br />
Das Angebot des mit der Pro Juventute im Rücken gleichsam als parastaatliche Behörde<br />
auftretenden «Hilfswerks» musste in der Folge um so verlockender erscheinen,<br />
als den tendenziell überforderten Kommunen nicht nur das schwierige und verantwortungsvolle<br />
Amt der Vormundschaft, das sonst einem Gemeindemitglied hätte<br />
aufgebürdet werden müssen, sondern auch ein Teil der finanziellen Belastung abgenommen<br />
wurde. Zumindest im genauer untersuchten Fall erfuhren die selbstsicher<br />
auftretenden Vormünder denn auch nichts anderes als volle Unterstützung durch die<br />
Gemeindebehörden selbst bei schwerwiegenden Entscheiden. Die Anordnungen des<br />
Vormunds mochten noch so problematisch sein – der Rückendeckung und nachträglichen<br />
Saktionierung durch die eigentlich zuständige Gemeindebehörde konnten<br />
Alfred Siegfried wie Clara Reust jederzeit sicher sein. Gerade weil letztlich die kommunale<br />
Fürsorgebehörde <strong>für</strong> den Vollzug von <strong>für</strong>sorgerischen Freiheitsentzügen<br />
zuständig war und nicht der Vormund, der in der Praxis noch so selbstherrlich schalten<br />
und walten mochte, trägt sie letztlich auch die volle Verantwortung <strong>für</strong> das<br />
Geschehene.<br />
Wirklich kontrollierend oder gar korrigierend wurde seitens der Heimatgemeinde nie<br />
eingegriffen, was aber nicht heisst, dass bloss aus Opportunitätsgründen alles geschluckt<br />
worden wäre, was Alfred Siegfried oder Clara Reust vorgespurt hatten.<br />
Dass die kommunalen Behörden die oft problematischen Anordnungen der Vor-<br />
286 Einblicke in den Anstaltsalltag aus der Sicht betroffener jenischer Personen gewähren beispielsweise<br />
die Protokolle in Huonker, Fahrendes Volk, 128–258.<br />
287 Zu diesem Brief Mottas vgl. unten, Kap. 6.