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Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 25<br />

jährigen Kindern, von denen die beiden Ältesten, ein 13- und ein 11-jähriger Knabe,<br />

mit ihrem Betteln und Stehlen den Schreck der ganzen Gegend bildeten. Nachdem es<br />

sich zeigte, dass die Verhandlungen mit den zuständigen Lokalbehörden kein Ergebnis<br />

erbrachten (die lockere Gesellschaft hatte ihre Bretterbaracke am Grenzpunkt<br />

von drei Gemeinden aufgeschlagen und wechselte, das einemal freiwillig, das<br />

anderemal durch die Ortspolizei aufgefordert, ihr ‹Domizil›, sobald irgendetwas<br />

gegen sie vorgekehrt werden sollte), begab sich ein beherzter Mitarbeiter des<br />

Zentralsekretariates kurzerhand an Ort und Stelle, unterhandelte mit den Eltern, und<br />

kehrte am gleichen Abend mit den beiden kleinen Strolchen zurück.» 34<br />

Diese Kindswegnahme war eindeutig illegal, da sie – zumindest gemäss der Schilderung<br />

Siegfrieds – nicht durch die zuständigen Fürsorgebehörden, sondern durch eine<br />

private Institution durchgeführt wurde. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn die<br />

Eltern die Kinder tatsächlich vernachlässigten und der Vater trank. In der NZZ vom<br />

8. Sept. 1926 stellte Siegfried befriedigt fest, seit einigen Wochen seien «zwei ‹Korberkinder›<br />

in einer Anstalt untergebracht» und es gehe ihnen «vortrefflich». Er verdankte<br />

ferner den Eingang von rund Fr. 1'100.– an Geldspenden, die der Aufruf in<br />

seinem ersten Artikel erbracht hatte. 35<br />

In den zweiten Fall, der zur Gründung des «Hilfswerkes» führte, war der Bund, genauer<br />

gesagt ein Bundesrat in direkter Art und Weise involviert. «Ungefähr zur gleichen<br />

Zeit», so wiederum Siegfried in seinen Erinnerungen, «erhielten wir, diesmal<br />

sogar aus dem Bundeshaus, ein dringendes Schreiben über die Verhältnisse einer<br />

Schirmflickerfamilie in Basel. Der Vater sass im Zuchthaus, die Mutter zog mit zwei<br />

jungen Männern im Lande herum; von den 7 Kindern hatte sie bloss einen Knaben<br />

bei sich, die übrigen waren da und dort bei Verwandten abgestellt, während der Älteste,<br />

ein bereits 16jähriger Jüngling, auf eigene Faust herumvagierte und eben jetzt<br />

wieder von der Polizei gefasst war. Wer <strong>für</strong> ihn einstehen sollte, war nicht zu ersehen;<br />

die Heimatgemeinde, ein winziges Tessinerdorf mit 35 Einwohnern, gab keine<br />

Antwort, ein Wohnort war nicht zu ermitteln, da die ganze Familie vor nicht langer<br />

Zeit behördlich heimgeschafft worden war.» 36<br />

Diese beiden Fälle gaben den Anstoss zur Gründung des «Hilfswerks <strong>für</strong> die Kinder<br />

der Landstrasse». Diese fiel in eine Epoche, die geprägt war von einer überaus aktiven<br />

Fürsorgebewegung. Zu dieser Bewegung gehörten auch verschiedene Frauenorganisationen<br />

und gemeinnützige Gesellschaften, welche nicht zuletzt das Mittel<br />

der Kindswegnahme und der Vormundschaft einsetzten, um ihre Vorstellungen von<br />

34 Siegfried, Kinder, 1963, 9. In einem anonymen, höchstwahrscheinlich aber von Siegfried verfassten<br />

<strong>Text</strong> mit dem Titel «Maria findet eine Heimat» wird diese Geschichte aus der Kinderperspektive<br />

geschildert. Als Marietta vom Wasserholen zurückkam, gewahrte sie den «vornehmen Herrn,<br />

der vor zwei Wochen die ältesten Brüder mit auf die Eisenbahn genommen hat». Damals hatte er<br />

ihr Schokolade geschenkt «und der Mutter ein schönes Brot und ein Pack Maccaroni». Alle bekamen<br />

etwas, «das ihnen gefiel». «Der reiche Herr wollte noch zwei Kinder mitnehmen, und nun<br />

stritten sich die Eltern darüber, ob sie die beiden Kleinsten oder die zwei Grösseren geben sollten.<br />

[…] Dann gingen sie alle vier mit dem Fremden.» vgl. Kinder der Landstrasse. Bilder aus dem<br />

Leben der wandernden Korber und Kesselflicker, hg. von der Schweiz. Stiftung Pro Juventute,<br />

Zürich, 1927, 9–16, Zitate 11f.<br />

Bei den Fr. 255.10, die bereits in der Jahresrechnung 1925/26 der Pro Juventute unter der Rubrik<br />

«Ausgaben <strong>für</strong> Vagantenkinder» verzeichnet sind, handelt es sich wohl um die Kosten dieser ersten<br />

Aktion, vgl. PJA A 30 Stiftungsrats-Sitzungen, Ordner 4: 1925–1928, Jahresabschluss der<br />

Rechnung 1925/26 zuhanden der Stiftungsrats-Sitzung vom 3. Okt. 1926.<br />

35 NZZ, 8. Sept. 1926.<br />

36 Siegfried, Kinder, 1963, 10; zur Rolle des Bundes vgl. Kap. 6.

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