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Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

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184 Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse<br />

wird? Wenn <strong>für</strong> den Leiter des Hilfswerks, Alfred Siegfried, also <strong>für</strong> den Vormund,<br />

viele dieser Kinder «hoffnungslos dumm» sind und eine «strenge Aufsicht nötig» haben,<br />

ihm zudem junge Männer oft «störrisch», «trotzig und bockig» erscheinen, eine<br />

folgsame junge Frau bei Gelegenheit aber auch als «hübsch, frisch» und «sauber»?<br />

Oder wenn derselbe einem heimversorgten achtjährigen [!] Mündel sexuelle Aggressivität<br />

– «macht sich ziemlich ungeniert an Männer heran» – attestiert? Höchstens<br />

von aussen mag es erheiternd wirken, wenn in den Augen einer Fürsorgerin öfters<br />

«ganze Banden» von «Vaganten» sich treffen, im Hause der einen Familie «Siesta<br />

halten» und sich «Hundefleisch wohlschmecken lassen», oder wenn sich bei einem<br />

Halbwüchsigen aus ihrer Sicht «das Vagantenblut meldet», weil er «partout Kondukteur<br />

werden möchte»!<br />

Sprachliche Diffamierung und Marginalisierung kann allerdings auch viel alltäglicher<br />

und subtiler erfolgen, etwa wenn Mitarbeiter des «Hilfswerks» häufig Zusätze<br />

im Stil von «der gegenwärtige Ehemann, seines Zeichens ebenfalls Korbflicker»,<br />

«nicht besonders faul, arbeitet recht, ohne zu maulen», «hat ein Weibergeschleif»<br />

usw. ihren Schilderungen beifügen. Blosse Unsensibilitäten? Solche alltäglichen<br />

Sprachschlenker diskriminieren letztlich Randständige auf besonders perfide und<br />

effiziente Weise. Bei einigen Vermerken in den Akten verschlägt es einem die Sprache<br />

schliesslich definitiv. «Im nächsten Winter kam uns dann der Herrgott zu Hilfe<br />

und holte den Vater heim», denn «auf seiner Vagantentour verunglückte er in einem<br />

Rausch tötlich» – so eine weitere Stimme aus der örtlichen Fürsorge. Geradezu ungeheuerlich<br />

hinterhältig ist die ablehnende Antwort von Siegfried auf einen pfarrherrlichen<br />

Hilferuf <strong>für</strong> eine bedrängte Familie von «katholischen Vaganten»: «Wenn das<br />

[dreijährige] Kind zum Leben zu schwach ist, so würde man ihm gewiss einen<br />

schlechten Dienst erweisen, wenn man es mit grossen Kosten aufpäppeln würde.»<br />

Niemand wird übersehen wollen, dass in den Akten auch viel tatsächliches Elend von<br />

hilfsbedürftigen Menschen zum Vorschein kommt, und niemand wird die Probleme<br />

unterschätzen, die aus Armut, Alkoholismus, Verhaltensstörungen und Gewalttätigkeit<br />

entstehen konnten und können. Aber: Beteiligte des Hilfswerks haben nicht nur<br />

fahrende Familien systematisch verfolgt, sondern sie haben mit der Erfassung und<br />

geschilderten aktenmässigen Registrierung auch aktiv und bestimmend beigetragen<br />

zur systematischen Stigmatisierung von «Vaganten» als kleinkriminelle Diebe, streitsüchtige<br />

Arbeitsscheue, unehrliche und verlogene Halbintelligente mit «Hausierer»-<br />

Mentalität, Versoffene und womöglich sexuell Lasterhafte. Generell steht hinter<br />

negativen Charakterisierungen nicht blosse zeitübliche Unzimperlichkeit und individuelle<br />

Herzlosigkeit, und natürlich geht es hier nicht um die Sprache allein. Im Falle<br />

des häufig angezogenen Vorwurfs der sexuellen Lasterhaftigkeit werden wie mit<br />

anderem (etwa dem «seltsamen Körpergeruch») klassische «Primitiven»- und Fremdenhass-Topoi<br />

angesprochen, genau wie der Vorwurf der Unehrlichkeit und des<br />

Müssiggangs jahrhundertealte Vorurteile gegenüber Fahrenden zementiert. Nicht<br />

zuletzt kommen auch typisch kleinbürgerliche Obsessionen zum Tragen: Im Hinblick<br />

auf die «Vagantenschönen» werden nicht nur die Verlogenheiten einer bürgerlichen<br />

Doppelmoral, sondern auch spezifisch frauendiskriminierende Vorurteile sichtbar.<br />

In erschreckender Weise deutlich wird in den Akten bereits schon in der Sprache ein<br />

intoleranter, tief verständnisloser und unwürdiger Umgang mit Menschen, die nicht<br />

der eigenen Norm entsprechen, gleichzeitig ein Umgang mit kulturell Andersartigen,<br />

wie er wohl typisch schweizerischen, kleinstaatlichen Ausprägungen moderner staatlicher<br />

Kontrolle und Repression entspricht. Es liegt in der Konsequenz des einer sol-

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