Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 43<br />
besonders mit den Heimen die gleiche Sorge hat wie ich. Es fehlt da und dort an der<br />
richtigen geduldigen Liebe.» 102 Zu einem Ferienlager in Waltensburg notierte er:<br />
«Es scheint, dass sie [die Kinder] in Fräulein Grünenfelder eine richtige Mutter<br />
gefunden haben, und nun bedrückt sie die Rückkehr in die klösterlich geführten<br />
Heime. Die zwei zuletzt bei mir Verbliebenen weinten gleich einen ganzen Tag und<br />
liessen mich erneut erkennen, dass <strong>für</strong> gewisse Kinder der Aufenthalt in einer<br />
anonymen Gesellschaft fast unerträglich ist.» 103 Wie zwiespältig musste ein Person<br />
sein, die solches realisierte, dennoch aber Hunderte von Kindern genau diesem<br />
Schicksal aussetzte.<br />
Viele Opfer des «Hilfswerkes» setzten ihre Anstaltskarriere auch nach der Schulzeit<br />
fort. Galten sie als «charakterlich besonders schwierige Anstaltszöglinge», fanden<br />
sie in den gewöhnlichen Anstalten zur Nacherziehung von Schulentlassenen keinen<br />
Platz. «Und da ist es denn nicht ausgeschlossen, dass man uns auffordert, ein besonders<br />
störrisches Mädchen von einer Stunde auf die andere abzuholen, so dass wir<br />
genötigt sind, nach allen Seiten telefonisch um Aufnahme zu bitten, da uns leider<br />
auch kein Durchgangsheim <strong>für</strong> schulentlassene Mädchen oder Burschen zur Verfügung<br />
steht.» Weitere Abklärungen der Verfassung solcher Schützlinge hielten die<br />
«Hilfswerk»-Verantwortlichen allerdings <strong>für</strong> überflüssig, da die Kinder in der Regel<br />
bereits an einem oder zwei Orten «sehr gründlich beobachtet wurden, so dass also<br />
weitere Ausgaben <strong>für</strong> Beobachtungen usw. weggeworfenes Geld wären». 104<br />
3.6.4. Ausbildung<br />
Auch nach der Plazierung in Heimen oder bei Pflegefamilien kümmerte sich das<br />
«Hilfswerk» intensiv um die Kinder. Der Vormund müsse das Mündel aus eigener<br />
Erfahrung kennen, das sei wichtig bei dessen Berufswahl, war Siegfried überzeugt.<br />
Allerdings sorgte er da<strong>für</strong>, dass die Wahlmöglichkeiten <strong>für</strong> seine «fast durchwegs<br />
untermittelmässigen, wenn nicht gar debilen Schützlinge» sehr beschränkt blieben.<br />
105 Viele würden nicht einsehen, warum sie einen gewissen Beruf nicht erlernen<br />
könnten, beklagte er sich. Er versuchte es deshalb mit «Experimenten», die den<br />
Jugendlichen die Unmöglichkeit ihrer Wünsche praktisch vor Augen führten. «Kennt<br />
man zufällig einen Meister, dem man einen aussichtslosen Versuch zumuten darf, so<br />
ist das jedesmal der beste Weg, um den betreffenden Jüngling zur Einsicht zu<br />
bringen, aber immer lässt sich eine solche Spezialkur nicht durchführen.» So höre<br />
man dann immer den Vorwurf, «der Vormund sei seinem Mündel vor der Sonne<br />
gestanden und hätte ihn schon an die Stelle bringen können, die ihm zusagte, wenn<br />
er dazu nicht zu bequem oder zu gleichgültig gewesen wäre». 106<br />
Siegfrieds Vorgehen war von einem kaum zu überbietenden Zynismus. Er liess<br />
Jugendliche bei einem von ihm vorbereiteten Meister in die Leere laufen, um ihnen<br />
zu beweisen, dass sie nicht <strong>für</strong> eine Lehre taugten. Gute Freunde halfen ihm bei der<br />
102 Siegfried: Monatsrapport August 1957, Hilfswerk <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse, BAR, J II.187,<br />
1208.<br />
103 Ebda.<br />
104 Siegfried, Jahresbericht 1957 des Hilfswerkes <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse, 15. Jan. 1958,<br />
BAR, J II.187, 1201.<br />
105 Ebda.<br />
106 Ebda.