Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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158 Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse<br />
und wurde bald darauf obdachlos in Zürich aufgegriffen. Die Behörden beschlossen<br />
die vorläufige Versorgung von B., der darauf in die Basler Knabenerziehungsanstalt<br />
«Klosterfiechten» und von da zu einer Familie in K. AG kam. Hier schwänzte er die<br />
Schule, riss wiederholt aus und musste wegen «seiner Kesselflicker-Unarten»<br />
schliesslich vom Pflegeplatz entfernt werden. Eine weitere Familienversorgung<br />
scheiterte ebenfalls. B., der unter ständigem Ohrenfluss litt, wurde wieder in die Anstalt<br />
«Klosterfiechten» verbracht. Inzwischen war der Vater wegen Trunksucht und<br />
Liederlichkeit vom Polizeidepartement versorgt worden, führte aber nach seiner<br />
Entlassung «das alte liederliche Leben» weiter. Im Dezember 1921 wurden sämtliche<br />
Kinder der Familie versorgt. Die Heimatgemeinde wollte sich aber nicht an den<br />
Kosten beteiligen und forderte eine Heimschaffung der ganzen Familie. «Um der Erziehung<br />
der Kinder willen, wurde die Heimschaffung immer wieder hinausgeschoben,<br />
bis die Allgemeine Armenpflege beim Polizeidepartement die Heimschaffung<br />
der ganzen Familie beantragte.» Am 2. März 1923 schliesslich wurden die Eltern<br />
und vier Kinder heimgeschafft, zwei Mädchen durften bis zur Kommunion des<br />
älteren Mädchens in Basel bleiben. Schon drei Tage später erschien B. aber wieder<br />
in der Anstalt «Klosterfiechten». Die Heimatbehörden hatten der Mutter und den<br />
drei jüngeren Kindern Bahnfahrkarten nach St. Gallen, dem Vater sowie B. solche<br />
nach Basel bzw. Birsfelden bei Basel gelöst. Der Vater war nicht auffindbar. Nun<br />
sollte die ganze Familie wieder an ihren Heimatort zurückgeschafft werden, weil<br />
diese nichts an die Heimkosten der Kinder bezahlen wollte. «Was aber wird aus<br />
ihnen [den Kindern], wenn sie der Heimatgemeinde übergeben werden, nachdem<br />
diese die Eltern und Kinder nach der ersten Zuführung so billig abgeschoben hat,<br />
ohne Verständnis <strong>für</strong> die Erziehung der Kinder, vielleicht auch ohne Möglichkeit,<br />
etwas <strong>für</strong> sie zu tun?» Der Brief schloss mit der Frage, ob Kanton oder Bund keine<br />
Mittel zur Verfügung hätten zur Erziehung solcher Kinder. 331<br />
Motta schrieb daraufhin am 12. Juni 1923 auf offiziellem Briefpapier den Pro-Juventute-Zentralsekretär<br />
Loeliger an und legte ihm den Brief von Kestenholz bei: «Io ho<br />
pensato alla probabilità di un intervento da parte della Fondazione ‹Pro Juventute›,<br />
per cui mi prendo la libertà di sottoporLe il caso e di pregarLa, signor Segretario<br />
centrale, di volerlo esaminare colla solita benevolenza e di riferirmi in proposito.<br />
Grato poi Le sarei, se Ella potesse escogitare i mezzi necessari per tentare di salvare<br />
i poveri ragazzi in parola ed anticipandoLe i miei migliori ringraziamenti, Le<br />
rassegno gli atti della più distinta considerazione e particolare osservanza.» 332<br />
Die Intervention seitens der Pro Juventute, die Motta brieflich angeregt hatte und die<br />
schliesslich das «Hilfswerk <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse» mitbegründete, liess<br />
dann allerdings noch rund drei Jahre auf sich warten. Weshalb die Pro Juventute sich<br />
erst nach dieser Frist zum Eingreifen entschloss, bleibt unklar. In der Schilderung<br />
Siegfrieds erscheint der ganze Ablauf im Zeitraffer, indem er die Gründung des<br />
«Hilfswerks» als unmittelbare Folge des bundesrätlichen Briefs darstellt. 333 Er benutzte<br />
den bundesrätlichen Brief offensichtlich als Legitimation. Da sich aber Bundesrat<br />
Motta, obwohl Siegfried dies auch öffentlich kundtat, nie davon distanzierte,<br />
331 Brief von H. Kestenholz, Jugend<strong>für</strong>sorger der Vormundschaftsbehörde Basel Stadt, an Bundesrat<br />
Giuseppe Motta, 26. April 1923, BAR, J II.187, 1108.<br />
332 Brief von Bundesrat Giuseppe Motta an Dr. Loeliger, Zentralsekretär der Pro Juventute, 12. Juni<br />
1923, BAR, J II.187, 1109.<br />
333 Siegfried, Kinder, 1963, 10.