Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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132 Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse<br />
hingegen eher positiv dargestellt. Die allgemeinen häuslichen Verhältnisse zum<br />
Zeitpunkt der Wegnahme B. K.s werden gemäss Rapport eines Toggenburger<br />
Gemeindebeamten als zwar äusserst arm und bescheiden, aber sauber und ordentlich<br />
geschildert.<br />
Nachdem die Trennung von den Eltern vollzogen war, sollte nach Möglichkeit jeglicher<br />
Kontakt zu diesen unterbunden bleiben. Keinen Monat nach der Einlieferung<br />
ins Kinderheim wurde dieses aufgefordert, sofort zu berichten, falls die Eltern auf<br />
Besuch kämen. «Sie [die Verantwortlichen des Kinderheims] könnten sonst Unannehmlichkeiten<br />
bekommen», heisst es sybillinisch im betreffenden Einschreiben.<br />
Siegfried war derart darauf bedacht, die Eltern komplett auszuschalten, dass er sogar<br />
Rechtsbrüche in Kauf zu nehmen bereit war. Als es um eine mögliche Adoption<br />
B. K.s durch seinen Pflegvater ging, wollte er diese unter Umgehung der an sich notwendigen<br />
Zustimmung der Eltern abgewickelt sehen, zumal er sich sicher war, dass<br />
die Behörden «hier Dispens geben» würden. Seine Doktrin scheint erfolgreich gewesen<br />
zu sein. Ob B. K. seinen Vater, der schon 1950 starb, jemals wiedersah, ist nicht<br />
bekannt. Späte Kontakte zur Mutter sind hingegen aktenkundig. Sie taucht 1960 das<br />
erste Mal nach über zwei Jahrzehnten in den Akten auf, als sie <strong>für</strong> B. K. eine Schuld<br />
begleicht. Das zweite Mal wird sie kurz vor, das dritte Mal nach ihrem Tod 1962<br />
erwähnt. Kontakte zur Mutter sind also erst <strong>für</strong>s Erwachsenenalter belegt, und<br />
obschon dies aus den Akten nicht hervorgeht, düften sich Mutter und Sohn<br />
mehrmals persönlich begegnet sein.<br />
Nach und nach erscheinen in den Akten dagegen einige seiner acht Geschwister, und<br />
zu einzelnen hatte er sogar persönlichen Kontakt, zunächst vor allem zu zwei Brüdern,<br />
H. und L., mit denen zusammen er mehrere Monate in der gleichen Heil- und<br />
Pflegeanstalt verbrachte, danach zu den Schwestern L. und S. Diese Beziehungen<br />
wurden – anders als jene zu den Eltern – von Siegfried im Unterschied zu anderen<br />
Fällen nicht nur geduldet, sondern, wenn auch ohne grossen Erfolg, zumindest in<br />
bezug auf eine der Schwestern, die Siegfried öfters als positives Beispiel erwähnte,<br />
sogar gefördert.<br />
Es blieb allerdings bei beiderseitigen zögerlichen Annäherungsversuchen wie etwa<br />
dem einmal geäusserten Wunsch nach einer Arbeitsstelle in der Nähe des Wohnorts<br />
einer älteren Schwester oder der Absicht, die Weihnachtstage bei dieser<br />
zuzubringen, und auch wenn B. K. dem einen oder anderen Bruder oder Verwandten<br />
etwa in Bellechasse oder «draussen» gelegentlich begegnete, so stellte sich doch –<br />
zumindest gemäss unseren Quellen – nie ein dauernder Kontakt oder gar eine engere<br />
Beziehung zu einem seiner Geschwister ein, ja im Gegenteil: B. K., der in den<br />
Augen des Direktors der Psychiatrischen Klinik «St. Pirminsberg» noch der<br />
«anständigste der K.-Familie» war, distanzierte sich nicht nur von seinen Brüdern,<br />
sondern schwärzte zwei sogar bei Clara Reust und bei den Gemeindebehörden an. 272<br />
272 Zur Distanzierung von den Brüdern vgl. etwa die folgende Passage in einem Brief B. K.s an Clara<br />
Reust vom 21. Dez. 1959: «Wenn die Gemeinde B. meint, die K. könnte man in den gleichen<br />
Sack stecken, so sind Sie auf dem letzen Holzwek.» In einem Brief vom 5. Sept. 1960 an die<br />
Heimatgemeinde fordert er diese auf, seinen Bruder K. unter Vormundschaft zu stellen, und am<br />
31. Okt. 1963 beschwert er sich gegenüber Clara Reust darüber, dass «andere, noch viel schlimmere,<br />
wie z. B. sein Bruder K. usw., einfach frei herumzigeunern» könnten.<br />
Es gibt aber immerhin Indizien da<strong>für</strong>, dass B. K. gelegentlich Verwandte traf. Nicht eruierbar ist,<br />
ob dies jeweils zufällig geschah oder geplant war. Eines dieser Zusammentreffen hatte <strong>für</strong> B. K.<br />
mehr als unangenehme Folgen. Dass er über Nacht weggeblieben war und der Lehrmeister nach-