Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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134 Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse<br />
selbstsicheren Auftreten des Dr. Siegfried mit eine Rolle gespielt haben. Jedenfalls<br />
stellten sich die Behörden der Heimatgemeinde – zumindest im vorliegenden Fall –<br />
kein einziges Mal zugunsten des Mündels quer zu Anordnungen des Vormunds, wie<br />
weit diese auch immer gehen mochten. Dieser hatte also ein sehr leichtes Spiel, und<br />
zwar gerade auch bei folgenreichen Massnahmen, etwa wenn es um die Plazierung<br />
bei Pflegeeltern oder Einweisungen in alle nur möglichen Heime und Anstalten ging.<br />
In keinem einzigen Fall – und das verdient hervorgehoben zu werden – hatte sich das<br />
Mündel übrigens straffällig im Sinne des Gesetzes gemacht, die Einweisungen erfolgten<br />
also alle nicht aufgrund eines Vergehens oder gar Gerichtsurteils, 275 sondern<br />
lediglich wegen eines Verhaltens, das der Vormund <strong>für</strong> nicht tolerabel hielt. Wie eng<br />
diese Grenzen gesteckt waren, geht aus einer an sich lapidaren, nichtsdestotrotz<br />
aufschlussreichen Episode im Winter 1959 hervor. Damals wurde B. K. offenbar<br />
bloss wegen seines Aussehens – er trug eine Röhrlihose sowie einen Schnurrbart –<br />
polizeilich vernommen. Obwohl B. K. gänzlich unschuldig gewesen sei, habe er<br />
«aber bei dieser Gelegenheit gemerkt, dass man sich nicht auffällig machen darf»,<br />
hielt Siegfried in einem Bericht fest. Nicht auffallen hiess nicht nur sich kleiden und<br />
geben «wie andere Leute», sondern sich auch eines sogenannt anständigen Lebenswandels<br />
befleissigen, d. h. einer geregelten Arbeit nachgehen, nicht im Wirtshaus<br />
sitzen und von seinem Lohn möglichst viel aufs Sparheft legen. Die darin zum Ausdruck<br />
kommenden Vorstellungen mögen heute in ihrer kleinbürgerlich-moralisierenden<br />
Beengtheit lächerlich wirken; damals waren sie bitterer Ernst. Auch nur geringe<br />
Abweichungen wie unentschuldigtes Fernbleiben von der Arbeit oder sich am Wochenende<br />
Betrinken reichten, um das Mündel <strong>für</strong> Monate und Jahre zu «versorgen».<br />
Das wiederum war letztlich aber nur möglich auf dem Hintergrund entsprechender<br />
gesetzlicher Bestimmungen wie gesellschaftlicher Stimmungen.<br />
Insgesamt verbrachte B. K. während seiner Pro-Juventute-Zeit rund zwei Jahre in<br />
einem Kinderheim, drei Jahre in einem Heim <strong>für</strong> bildungsfähige Schwachbegabte<br />
und fünf Jahre in geschlossenen Anstalten, und zwar einzig und allein aufgrund administrativer<br />
Verfügungen. Hinzu kamen dann anfangs der siebziger Jahre nochmals<br />
zwei Jahre Internierung in einer halboffenen Trinkerheilanstalt.<br />
Auch in all diesen gravierenden Fällen von Freiheitsentzug dürften sich sowohl<br />
Alfred Siegfried wie später Clara Reust auf dem sicheren Boden des Gesetzes bewegt<br />
haben, und wo dieser ungangbar war, wurde er kurzerhand eingeebnet, so z. B.<br />
als B. K. kurz vor seiner Volljährigkeit stand und eigentlich aus der Vormundschaft<br />
hätte entlassen werden müssen. Damals schritt Siegfried, der von der Mündigkeit<br />
B. K.s nicht viel hielt, zu Mitteln, die als Nötigung bezeichnet werden müssen. Seinem<br />
Mündel legte er nämlich ein ausformuliertes Gesuch vor, in dem dieses selbst<br />
die zuständigen Behörden um die Weiterführung der Vormundschaft durch Alfred<br />
Siegfried bat, und erzwang dessen Unterschrift mit dem Hinweis auf ein psychiatrisches<br />
Gutachten, das <strong>für</strong> eine weitere Bevormundung ebenfalls ausreichen würde. 276<br />
275 Zwar wurde B. K. nach seiner Pro Juventute-Zeit am 12. Jan. 1971 wegen Diebstahls zu einer<br />
viermonatigen Gefängnisstrafe abzüglich 23 Tage Untersuchungshaft verurteilt, doch musste er<br />
diese nicht antreten, da ihm die Internierung in der halboffenen Anstalt «Kreckelhof» daran angerechnet<br />
wurde; vgl. Verfügung des Polizeidepartements des Kantons St. Gallen vom 15. April<br />
1971; GA B., Vormundschaftsakten B. K.<br />
276 Pikanterweise fehlt ausgerechnet dieses psychiatrische Gutachten in den Kinder der Landstrasse-<br />
Akten und wird auch in der Pro Juventute-internen Zusammenfassung auf den grünen Halbkartons<br />
nicht erwähnt! Die Gründe <strong>für</strong> dieses Fehlen wären in zusätzlichen Recherchen zu klären.