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Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 37<br />

Siegfried widersprach der in der Kinderpsychologie schon damals dominierenden<br />

Ansicht, die Trennung des Kindes von der Mutter im frühesten Kindesalter sei eine<br />

der Hauptursachen <strong>für</strong> später auftretende Erziehungs- und Anpassungsschwierigkeiten.<br />

Hätte diese Theorie als Dogma Geltung, so Siegfried, «so wäre unsere Methode<br />

der Um- und Nacherziehung von Kindern des fahrenden Volkes von vornherein verfehlt,<br />

ja naturwidrig». Zwar würden Kinderpsychiater mit einem nicht unerheblichen<br />

Prozentsatz von Kindern rechnen, «deren besonders empfindsame Seele das Trauma<br />

der Trennung nicht zu verwinden vermag». Aber mit der Trennung gleichwertig<br />

würde auch das Fehlen mütterlicher Pflege und Nestwärme als Grund <strong>für</strong> die in<br />

späteren Jahren bei Verwahrlosten beobachtete und so erschreckend anmutende Gefühlsarmut<br />

betrachtet. Gerade diese Voraussetzung treffe aber bei den Kindern von<br />

Fahrenden in höchstem Masse zu, so dass die möglichst frühe «Verpflanzung in<br />

anderes Erdreich auch vom Standpunkt der Psychohygiene aus das kleinere Übel»<br />

bedeute. Vagantenkinder würden in der Regel um ihr Spielalter betrogen, «und wir<br />

glauben, dass diese Vernachlässigung neben kaum zu bestreitenden erbbiologischen<br />

Komponenten mit als Ursache der durchwegs festzustellenden untermittelmässigen<br />

Intelligenz genannt werden muss».<br />

Siegfried spielte also das eine Übel gegen das andere aus, gewichtete die beiden<br />

nach seinem Belieben und unterstellte zudem allen fahrenden Eltern ohne jede Differenzierung,<br />

es an mütterlicher Pflege und Nestwärme fehlen zu lassen. Ihm ging<br />

jedes Verständnis <strong>für</strong> andere Formen der mütterlichen Zuwendung oder der Erziehung<br />

als die, welche er aus seinem eigenen städtisch-bürgerlichen Milieu kannte, ab.<br />

Er räumte immerhin ein, die Trennung könne «beim einen oder anderen Schützling<br />

[…] so schockartig» wirken, dass er sie nie überwinden werde. Doch ein «in<br />

irgendeiner Hinsicht etwas sonderbarer, aber im allgemeinen rechtschaffener und<br />

tüchtiger Mensch» sei allemal wünschenswerter als «ein anscheinend seelisch<br />

gesunder (sie sind es nach unsern Beobachtungen fast alle nicht!) Rechtsbrecher,<br />

Trinker und Müssiggänger».<br />

Es habe «einige wenige Fälle» gegeben, die «nirgends Wurzeln fassten und unablässig<br />

vom Bewusstsein erfüllt waren, in der Verbannung zu leben und zur Familie<br />

zurückkehren zu müssen. Da war kein Erfolg möglich.» Siegfried liess aber selbstverständlich<br />

auch diese Kinder nicht zu ihren Eltern zurückkehren, denn die Öffentlichkeit<br />

wäre empört, «wenn ein Vormund seine Mündel der sicheren Verwahrlosung<br />

preisgeben würde». Andere würden jahrelang davon reden, die Mutter zu<br />

suchen, sobald die Vormundschaft wegfalle. Doch dann würden sie einen Freund<br />

oder eine Freundin finden und heiraten; die Sehnsucht nach der Mutter erlösche.<br />

«Ein einziges unserer Mädchen, ein ziemlich unbegabtes, aber gutmütiges Menschenkind,<br />

das in einer tüchtigen und lieben Pflegefamilie das rechte Nest gefunden<br />

hatte und später eine gute Ehe einging, hat sich nicht gescheut, den völlig verwahrlosten<br />

Vater in seinen letzten Lebensmonaten zu sich zu nehmen, damit er nicht bei<br />

fremden Leuten sterben müsse.» Die weitaus meisten «Schützlinge» aber zogen laut<br />

Siegfried die neue Heimat der alten, an die sie sich kaum mehr erinnern würden, vor,<br />

lehnten sich an ihre Pflegeeltern und Meistersleute an und wollten, reife Menschen<br />

geworden, nichts mehr von ihrer Sippe wissen. 74<br />

Gespräche mit Betroffenen zeigen schnell, dass es mit dieser Behauptung Siegfrieds<br />

wenig auf sich hat. Kinder, die als Säuglinge weggenommen worden waren, hatten<br />

74 Siegfried, Kinder, 1963, 26–28.

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