Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 177<br />
chen mit anderen zeitgenössischen rassenhygienischen oder eugenischen Aktionen<br />
bzw.Verbrechen ausserhalb Deutschlands zu berücksichtigen. Dass übrigens in<br />
schweizerischen Verhältnissen Formen und Dimensionen der Vorgänge nicht dieselben<br />
waren wie andernorts, spielt <strong>für</strong> die Beurteilung der Schicksale von Betroffenen<br />
des «Hilfswerks» keine Rolle.<br />
7.1.5. Beteiligte im Umfeld<br />
Die Rolle privater Organisationen und Stiftungen im Zusammenhang mit den «Kindern<br />
der Landstrasse» wie mit dem Fürsorgewesen ganz allgemein ist weitgehend<br />
unbekannt. Die Pro Juventute nimmt dabei sicher eine Sonderstellung ein, die sich<br />
sowohl aus der Grösse und Bedeutung der Stiftung und ihrem Ansehen in der<br />
Öffentlichkeit als auch aus dem konkreten Engagement ergab. Dennoch spielen auch<br />
andere Organisationen eine wichtige Rolle. Zu nennen ist hier etwa das Seraphische<br />
Liebeswerk, das in den katholischen Gebieten, besonders in Luzern und Solothurn,<br />
eine bedeutende Stellung innehatte und das neben der Aktivität im Adoptionswesen<br />
und in der allgemeinen Waisen<strong>für</strong>sorge eine bis heute unbekannte Anzahl Kinder<br />
von Fahrenden betreute. Untersucht werden müsste aber auch die Rolle anderer ähnlicher<br />
Institutionen, sodann jene von Kinderheimen, Anstalten und Kliniken, die von<br />
privaten Trägerschaften betrieben wurden. Die in diesen Bereichen unzweifelhaft<br />
schlechtere Zugänglichkeit wie auch Dichte der schriftlichen Überlieferung ist sicher<br />
ein Hindernis <strong>für</strong> die Aufarbeitung. Um so wichtiger ist deshalb neben der Suche<br />
nach noch vorhandenen Materialien der Einbezug möglichst vieler mündlicher Aussagen<br />
von Betroffenen und Beteiligten.<br />
Selbstverständlich gibt es neben diesen Institutionen viele Arten von Beteiligten in<br />
einem weiteren Umfeld: Pflegeeltern, Polizeistellen, Arbeitgeber, Sponsoren, Paten,<br />
Verwandte, private Helfer und andere. Es kann und soll nicht bestritten werden, dass<br />
es auch in diesem weiteren Umfeld (wie auch unter behördlich Beteiligten)<br />
sozusagen «alles» gab, das heisst: Auch hier gab es die Machtgierigen, die selbsternannten<br />
Volkssanierer, Nazis, Fremdenhasser und Denunzianten, aber ebenso Personen,<br />
die mit gutem Willen und echter Hilfsbereitschaft helfen wollten. Natürlich<br />
bleibt bei der Untersuchung der «Hilfswerk»-Akten das allgemeine gesellschaftliche<br />
Umfeld weitgehend im dunkeln. Wie gut die Bevölkerung über die Aktion informiert<br />
war, wie die Medien berichteten und wie weit es Reaktionen von Beobachtern oder<br />
zufällig Informierten gab, ist noch viel zu wenig untersucht. Es wäre daher unter<br />
Beizug weiterer Quellen abzuklären, ob die Aktion «Kinder der Landstrasse» tatsächlich<br />
auf eine mehrheitliche Zustimmung in breiten Bevölkerungskreisen stiess<br />
und aus welchen Gründen es gegebenenfalls zu dieser Zustimmung gekommen ist.<br />
Die von Verantwortlichen meist sehr entschieden behauptete Billigung durch das<br />
«Schweizervolk» könnte sich auch als Schutzbehauptung erweisen, die höchstens<br />
auf die Wohltätigkeitspropaganda zutrifft.<br />
7.1.6. Aktenlage<br />
Die im Bundesarchiv aufbewahrten Akten des «Hilfswerks <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse»<br />
stellen als Gesamtbestand ein ausserordentlich wertvolles zeitgeschichtliches<br />
Material dar. Sie garantieren, dass das begangene Unrecht auch über den Kreis<br />
der Betroffenen hinaus nicht einfach in Vergessenheit geraten kann und die Vorgänge<br />
um das «Hilfswerk» Bestandteil eines kollektiven schweizerischen Gedächt-