Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 57<br />
ganz arg waren», habe sie aus eigener Befugnis eingegriffen, z. B. in dem Fall, «wo<br />
ein Graubündner Ehepaar sechs Kinder über Nacht unter einer Brücke liegen liess,<br />
um von Pinte zu Pinte zu ziehen». 153<br />
In einigen Fällen beschwerte sich das «Hilfswerk» über die «Pflichtvergessenheit»<br />
von Polizisten im Umgang mit Jenischen. 154 Warum die Polizei nicht immer Freund<br />
und Helfer der Pro Juventute war, wäre anhand von Polizeiakten und der einzelnen<br />
Personaldossiers genauer zu untersuchen. Einerseits spielte sicher eine Rolle, dass<br />
die örtlichen oder kantonalen Polizeistationen kein Interesse daran hatten, sich mit<br />
Fahrenden zu beschäftigen, die sich in der Regel nur kurze Zeit auf ihrem Territorium<br />
aufhielten. Andererseits glaubt man auch ein anderes Verhalten gegenüber der<br />
jenischen Kultur zu spüren. Sicher mochte man die Fahrenden nicht besonders,<br />
verdächtigte sie häufig allerlei kleinerer Delikte, aber es gab gewisse Regeln, die<br />
sich eingespielt hatten, man kannte sich, hatte häufig pragmatische und <strong>für</strong> beide<br />
Seiten einigermassen akzeptable Verhaltensnormen gefunden und drückte gerade<br />
auch bei Bagatellen bisweilen ein Auge zu.<br />
Dass manche Polizisten aus einem bäuerlichem Milieu stammten, wo eine solche<br />
Verhaltensweise stärker verwurzelt war, hat diese Tendenz wahrscheinlich verstärkt.<br />
Der Sohn eines ehemaligen kantonalen Polizeikommandanten schilderte uns, wie<br />
sein Vater jährlich von einer fahrenden Sippe zum Essen eingeladen worden sei, was<br />
Gelegenheit bot, manche Angelegenheit zu regeln und zu besprechen. Auf der anderen<br />
Seite gibt es natürlich auch genügend Beispiele da<strong>für</strong>, dass Polizeistellen die Pro<br />
Juventute engagiert unterstützten.<br />
Das einem städtisch-bürgerlichen Milieu zuzuordnende «Hilfswerk» mit seinen rigiden,<br />
nicht an überlieferten Formen des Nebeneinanderlebens orientierten Vorstellungen<br />
brachte Unruhe und zusätzliche Umtriebe. Dieser Aspekt ist bei der Beurteilung<br />
des Verhaltens der einzelnen Gruppen von Beteiligten immer mitzuberücksichtigen:<br />
Die Fahrenden wurden von den verschiedenen beteiligten Behörden und Institutionen<br />
aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Die Gemeinden wollten in erster<br />
Linie möglichst geringe Kosten, d. h. möglichst wenige Unterstützungsfälle. Wenn<br />
das Vorgehen der Pro Juventute zu höheren Kosten führte, weil auch Familien erfasst<br />
wurden, die bisher nicht von einer Unterstützung abhängig gewesen waren, war<br />
das nicht unbedingt im Sinne der Gemeinden. Verringerte sich die Last hingegen<br />
durch die Arbeit und finanzielle Unterstützung der Pro Juventute, durfte diese mit<br />
dem Wohlwollen der kommunalen Instanzen rechnen. Ähnlich sah es bei den Kantonen<br />
aus, wobei diesen zusätzlich der generelle Aspekt von Ruhe und Ordnung<br />
wichtig war. Die Polizei war vor allem dann interessiert, wenn es um konkrete Straftaten<br />
ging. In der Regel handelte sie pragmatisch und war bestrebt, den Aufwand<br />
möglichst gering zu halten. Häufig war man zufrieden, wenn das Problem aus dem<br />
eigenen Wirkungsfeld verbannt werden konnte. Siegfried erwähnte etwa die Tessiner<br />
Polizei, die «wieder einmal eine kleine Säuberung in die Wege leitet und ausserkantonale<br />
‹Zingari›, die mit ihrem Bettel Bauern und Handwerker belästigen, kurzerhand<br />
in die Heimatgemeinde» zurückschafft. 155<br />
In der Regel lag keiner dieser Gruppen etwas an einer Aufblähung des «Vagantenproblems»<br />
zu einer nationalen Aufgabe, und niemand sah wie Siegfried darin eine<br />
153 Siegfried, Kinder, 1963, 23f.<br />
154 Vgl. Kap. 4.1. und 4.3.<br />
155 Siegfried, Kinder, 1963, 23.