das argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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190 Guillermo Hoyos-Vdsquez<br />
theologische Reflexion die Vermittlung der Sozialwissenschaften als notwendig voraus.<br />
Natürlich handelt es sich dabei nicht um eine positivistische Sozialwissenschaft,<br />
sondern um eine <strong>kritische</strong> Sozialwissenschaft, die sich innerhalb des Rahmens des historischen<br />
Materialismus ausgebildet hat.<br />
Sicher weiß sich der Christ in seiner sozialen Praxis bestimmt durch die Inspiration<br />
des Glaubens; aber dieser Glaube ist nicht ein thematischer, sondern vielmehr ein<br />
operativer Glaube, und zwar auf dem Niveau der Motivation. Die Krisis und der Widerspruch,<br />
die in der Geschichte des unterdrückten Volkes erlebt werden, lassen einen<br />
strukturellen Wandel der Situation als notwendig erscheinen, damit die neue Situation<br />
immer mehr den christlichen Werten entspricht, die mit der Sittlichkeit identisch<br />
sind. Die Bedeutung der christlichen Werte <strong>für</strong> die Gesellschaft ergibt sich nicht<br />
auf einem theoretischen Niveau, sondern entspringt einer zutreffenden politischen<br />
Praxis. Diese impliziert eine wissenschaftliche Analyse der sozialen Realität, die sowohl<br />
eine Kritik des Systems als auch eine Motivation zu politischem Handeln darstellt.<br />
Auf diese Weise tragen die <strong>kritische</strong>n Sozialwissenschaften dazu bei, den Glauben<br />
in seinem motivierenden Sinn ins rechte Licht zu stellen, und geben die Möglichkeit,<br />
den Glauben in der historischen Aktion des Christen zu artikulieren. Die Vermittlung<br />
der <strong>kritische</strong>n Sozialwissenschaften erschöpft den Sinn des Glaubens nicht<br />
vollständig, aber sie bestimmt und konditioniert ihn historisch.<br />
Von diesen ethischen und epistemologischen Optionen her versteht man die historische<br />
Konkretion der Inhalte der Theologie der Befreiung. Der Titel »Befreiung«<br />
zeigt die politische Option an, die nunmehr <strong>das</strong> Thema sein soll. Es ist nicht eine Theologie<br />
des Wortes, der Person, der Liebe, der Hoffnung oder der Geschichte. Es ist<br />
vielmehr eine bestimmte Aufgabe, die aus der Notwendigkeit der Befreiung erwachsen<br />
ist, die sich aus spezifischen historischen Widersprüchen ergeben hat. Allein im<br />
Prozeß der tatsächlichen Befreiung kann die theologische Reflexion Bedeutung erlangen<br />
als Wahrnehmung der christlichen Werte dort, wo sie Geschichte werden, und als<br />
Inspiration <strong>für</strong> eben diesen Prozeß. Die Inhalte der Theologie der Befreiung werden<br />
nicht einem theoretisch-systematischen Universum entnommen, sondern sie entsprechen<br />
den historischen Notwendigkeiten.<br />
Diese thematische Option impliziert die Anstrengung, die theologischen Dualismen<br />
zu überwinden: glaubendes SUbjekt und historisch bestimmte Gesellschaft,<br />
<strong>Theorie</strong> und Praxis, Hinwendung zur Transzendenz und Wirken in der Welt. Indem<br />
man nicht von einer <strong>Theorie</strong> ausgeht, sondern von einer durch den Glauben inspirierten<br />
und durch die <strong>kritische</strong>n Sozialwissenschaften erklärten Erfahrung, thematisiert<br />
die Theologie der Befreiung ihre Reflexion auf eine neue Weise: die Wahrheit kennen<br />
heißt die Wahrheit in der Geschichte tun, Christus kennen heißt Christus in der je eigenen<br />
Geschichte nachfolgen, <strong>das</strong> Böse kennen heißt die Verantwortlichkeit <strong>für</strong> die<br />
institutionalisierte Ungerechtigkeit annehmen und Wege suchen, um die strukturelle<br />
Gerechtigkeit zu schaffen.<br />
Das befreiende Interesse, <strong>das</strong> die Perspektive und die Inhalte der theologischen Reflexion<br />
bestimmt, drückt zugleich <strong>das</strong> Ziel dieser Reflexion aus. Die traditionelle<br />
Theologie versuchte, den Glauben und die Inhalte der christlichen Wahrheiten zu erklären;<br />
die moderne Theologie versucht, den Sinn des Glaubens wiederherzustellen,<br />
eines Glaubens, der seit der Aufklärung durch die liberalen Ideen und <strong>das</strong> wissenschaftliche<br />
Bewußtsein verunsichert und gefährdet ist. Die fundamentale Aufgabe der