Wegweiser zur Geschichte: Afghanistan - MgFa
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Paktia und Kundus: Herrschaft in der Provinz<br />
Nadir Schah auf den Thron brachten. Vom neuen Herrscher erhielten<br />
sie dafür Steuerfreiheit und andere Vergünstigungen wie<br />
die Freistellung vom Wehrdienst, die teils bis heute Gültigkeit<br />
haben. Die Stämme schufen so die Voraussetzungen dafür, dass<br />
in Paktia selbstbewusste Stammesvertreter für die Regelung örtlicher<br />
Fragen bereitstanden.<br />
Gegen Ende der 1970er-Jahre reichte der staatliche Einfluss<br />
in Paktia nicht über die Provinzhauptstadt Gardes hinaus. Ebenso<br />
wenig wie der afghanische Staat wagten es später die Taliban,<br />
das funktionierende Stammessystem anzutasten. Es gelang<br />
ihnen beispielsweise nicht, in Paktia die religiösen Gesetze der<br />
Scharia einzuführen oder ihr in anderen Landesteilen geltendes<br />
Musikverbot durchzusetzen. Vielmehr verlegten sie sich auf<br />
die Strategie der afghanischen Vorkriegsregierung, nämlich die<br />
ländlichen und abgelegenen Gebiete der Provinz sich weitgehend<br />
selbst zu überlassen und einen rudimentären Gedankenaustausch<br />
über Mielsmänner wie die gewählten Dorfvorsteher<br />
(Maliks) zu pflegen.<br />
Auch ohne starken Einfluss des Zentralstaats herrschen in<br />
Paktia weder Anarchie noch Rechtlosigkeit. Das Leben in der<br />
paschtunischen Stammesgesellscha regeln nur in geringerem<br />
Umfang staatliche Gesetze oder der Islam, als vielmehr der Verhaltenskodex<br />
des Paschtunwali. Die hier festgeschriebenen Werte<br />
und Rechtsvorstellungen umfassen strikte Regeln und stellen ein<br />
funktionierendes System informeller Justiz bereit. Dieses ist freilich<br />
durch den afghanischen Staat weder legitimiert noch abgesegnet.<br />
Westlichen Normen und Werten läu es in vielen Bereichen<br />
diametral zuwider (vgl. den Beitrag von Erwin Orywal). Wo<br />
die Stammesgesellscha intakt ist – was bei Weitem nicht in allen<br />
paschtunischen Gebieten der Fall ist –, liegt ihr ein Idealbild von<br />
Gemeinscha zugrunde. Diesen Vorstellungen zufolge werden<br />
Entscheidungen in einer Dschirga getroffen, einer Versammlung<br />
aller männlichen Erwachsenen. Zu einem Ergebnis kommt diese<br />
durch einstimmigen Beschluss. Dschirgas existieren prinzipiell<br />
auf allen Ebenen der Stammesorganisation.<br />
Traditionelle Mechanismen sind in der Lage, die Befolgung<br />
dieser Regeln auch durchsetzen. Hierzu zählen sozialer Druck<br />
und der Umstand, dass außerhalb der Gemeinscha niemand<br />
in der Provinz wirklich bestehen kann. Aber auch Stammes-<br />
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