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Bericht der Kommission »Familie und demographischer Wandel

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IV. Kindeswohl <strong>und</strong> Wohl <strong>der</strong> Älteren<br />

1 Subsidiarität <strong>und</strong> globale Welt<br />

Die Gr<strong>und</strong>lagen des Prinzips Subsidiarität<br />

haben wir bereits in Teil I dargelegt. Dabei<br />

wurde deutlich, dass es sich im Kern um die<br />

Entscheidung einer Machtfrage handelt. Es<br />

geht um das Spannungsverhältnis zwischen<br />

bürgerlicher Freiheit, die eigenen Angelegenheiten<br />

verantwortlich selbst <strong>und</strong> frei von<br />

staatlicher Einmischung zu ordnen, <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

inhaltlichen Bestimmung des Rechts <strong>der</strong><br />

staatlichen Macht, in den geschützten Raum<br />

aus Gründen eines höherwertigen Gesamtinteresses<br />

einzugreifen. Im deutschen Wohlfahrtsstaat<br />

obrigkeitlicher Prägung des<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>ts wurde das Eingriffsrecht<br />

des Staates aus dem Anspruch abgeleitet,<br />

die Lebensverhältnisse möglichst aller Menschen<br />

nach einheitlichen Maßstäben zu<br />

regulieren. Die heutigen sozialen Sicherungssysteme,<br />

wie gesetzliche Renten, Pensionen<br />

<strong>und</strong> die Arbeitslosenversicherung,<br />

entstammen dieser Vorstellung ebenso wie<br />

eine möglichst einheitliche Krankenversicherung.<br />

Ihnen allen liegt die Vorstellung<br />

zugr<strong>und</strong>e, vor allem <strong>der</strong> Zentralstaat sei in<br />

<strong>der</strong> Lage, gesellschaftliche Risiken abzusichern<br />

<strong>und</strong> damit auch die individuellen<br />

Lebensrisiken in angemessener Weise abzuwenden.<br />

Diese Sicht <strong>der</strong> Dinge entspricht in <strong>der</strong><br />

wissenschaftlichen Diskussion <strong>der</strong> These<br />

von Putnam, es werde in hoch differenzierten<br />

Gesellschaften immer schwieriger, sich<br />

darauf zu verlassen, dass die Familie, die<br />

Nachbarschaft <strong>und</strong> die Gemeinde die notwendigen<br />

Unterstützungen erbringen könnten,<br />

um das Subsidiaritätsprinzip zu leben.<br />

Mit seiner Argumentation, dass die Menschen<br />

heute nur noch für sich allein leben<br />

(»bowling alone«), steht Putnam nicht allein;<br />

in <strong>der</strong> deutschen Diskussion ist Ulrich Beck<br />

ein prominenter Vertreter dieser Position.<br />

Auch Richard Sennett beschreibt, wie in <strong>der</strong><br />

hoch flexiblen Welt des Kapitalismus feste<br />

Bindungen <strong>und</strong> Beziehungen gar nicht mehr<br />

entwickelt werden können, so dass nur<br />

noch <strong>der</strong> Gesamtstaat <strong>und</strong> die von ihm<br />

getragenen Institutionen in <strong>der</strong> Lage seien,<br />

die Lebensrisiken des Einzelnen zu bewältigen.<br />

Erstaunlich an dieser weltweit geführten<br />

Debatte ist die Tatsache, dass vor allem<br />

deutschsprachige Autoren die These vertreten,<br />

<strong>der</strong> Zentralstaat gebe immer die Strukturen<br />

des individuellen Handelns <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Beziehungen vor <strong>und</strong> strukturiere damit<br />

auch die privaten Lebensformen <strong>und</strong> die<br />

familiären Bindungen (Alber 1982). Im Kontrast<br />

zu dieser eher deutschen Debatte zeigen<br />

jedoch französische Historiker, etwa<br />

Aries in <strong>der</strong> »Geschichte <strong>der</strong> Familie«, dass<br />

vor allem im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t die staatlichen<br />

Institutionen immer wie<strong>der</strong> den Versuch<br />

unternommen haben, das private Leben <strong>der</strong><br />

Bürger möglichst nach ihren Vorstellungen<br />

zu formen.<br />

Das galt nicht nur für die Französische<br />

Revolution, bei <strong>der</strong> sogar die Nachthemden<br />

<strong>der</strong> Bürger revolutionär vorgeschrieben<br />

waren. Der französische Historiker Donzelot<br />

hat in seiner »Ordnung <strong>der</strong> Familie« mit<br />

bewun<strong>der</strong>nswerter Klarheit beschrieben,<br />

wie <strong>der</strong> französische Staat im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

sukzessiv versuchte, zunächst das private<br />

Leben <strong>der</strong> Unterschichten zu organisieren,<br />

um revolutionäre Ereignisse wie 1848<br />

möglichst zu unterbinden, etwa mit dem<br />

Bau von Sozialwohnungen am Stadtrand von<br />

Paris. Sie waren so angelegt, dass die Polizei<br />

zügig eingreifen konnte. Auch wurden<br />

die Hausbesuche <strong>der</strong> Fürsorgerinnen<br />

zunächst mit <strong>der</strong> Begründung erf<strong>und</strong>en, den<br />

Schulbesuch aller Kin<strong>der</strong> sicherzustellen.<br />

Später wurden sie aber als geeignetes<br />

Instrument genutzt, um die private Lebensführung<br />

<strong>der</strong> Unterschichten sorgfältig zu<br />

kontrollieren. Auch zeigt Donzelot, wie die<br />

Mittelschichten über steigende Ansprüche<br />

an die »richtige« Sozialisation <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />

zunehmend in die Abhängigkeit von Professionellen,<br />

in <strong>der</strong> Regel staatlich angestellt,<br />

gebracht wurden.

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