Konstruktivismus, Theologie und Wahrheit - Religionslehrer im ...
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- Der Steuermann führt ein Boot durch eine nebelige Meeresenge. Obwohl es ihm<br />
gelingt, würde seinen gewählten Weg aber nie als den „wahren“ oder den einzig<br />
richtigen Weg bezeichnen. Sein Kurs ist entweder viabel oder nicht. Ebenso wird er nie<br />
Aussagen in Bezug auf die Positionen der einzelnen Sandbänke treffen können.<br />
- Wenn man Sand durch ein Sieb rieseln lässt, kann aus der Sicht des Sandes keine<br />
Aussage über das Sieb gemacht werden. Es bleibt lediglich die Feststellung, dass man<br />
durchgekommen ist. 41<br />
2.3.2 Humberto Maturana<br />
Ein wichtiger Baustein der konstruktivistischen Theoriebildung bilded das Konzept der<br />
Autopoiese bzw. Autopoiesis. Der Begriff der Autopoiese („Selbsterzeugung“) wurde vom<br />
chilenischen Neurobiologen Maturana geprägt <strong>und</strong> bezeichnet die Eigenschaft aller<br />
Organismen, aus sich selbst heraus zu schaffen. Diese Aussage ist weder blasphemisch noch<br />
<strong>im</strong> metaphysischen Sinne gemeint, sondern es soll ausgedrückt werden, dass jeder Organismus<br />
seine Grenze zur Außenwelt selber produziert. Diese Grenze zur Außenwelt macht den<br />
Organismus erst zu etwas von der Umwelt Verschiedenem. Organismen nehmen Substanzen<br />
aus der Umwelt auf, verwandeln sie aber sofort in verwertbare, brauchbare Baustoffe.<br />
Substanzen, die nicht verwandelt werden können, werden nicht „wahrgenommen“,<br />
gewissermaßen „ignoriert“.<br />
Hilfreich ist zunächst der Vergleich mit einer Zelle: Diese ist durch eine Zellwand von ihrer<br />
Umwelt getrennt. Durch die Zellwand wird klar, wo die Zelle anfängt <strong>und</strong> die Umgebung<br />
aufhört. Innerhalb der Zellwände ist es der Zelle möglich, Moleküle zu produzieren. Diese sind<br />
Gr<strong>und</strong>lage für die Aufrechterhaltung der Zellwände. Eine Zelle ist also ein „autopoietisches<br />
System“, ein „geschlossenes System“.<br />
Maturana zufolge sind alle lebenden Wesen solche autopoietischen Systeme. D.h. sie sind<br />
„selbsterzeugend, autonom, strukturdeterminiert, selbstreferentiell <strong>und</strong> operativ geschlossen. Sie<br />
stehen in ständigem Austausch mit ihrer Umgebung <strong>und</strong> mit anderen lebenden Systemen. Lebende<br />
Systeme mit komplexen Nervensystemen können sich selbst, andere Systeme <strong>und</strong> ihre Umwelt<br />
beobachten. Sie entwickeln durch Selbstbeobachtung Selbstbewusstsein. [...] Der kognitive Bereich<br />
eines autopoietischen Systems ist der Bereich aller Beschreibungen bzw. Repräsentationen, die das<br />
System anfertigen kann. [...] Kognition ist demnach ein prinzipiell subjektabhängiges Phänomen,<br />
da alle kognitiven Zustände des Erkennenden durch die Art <strong>und</strong> Weise der Verwirklichung seine<br />
Autopoiese determiniert sind <strong>und</strong> nicht etwa durch die Bedingungen seiner Umwelt. Wahrnehmung<br />
41 Vgl. KLEIN 2003, 101.<br />
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