Konstruktivismus, Theologie und Wahrheit - Religionslehrer im ...
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Zuständen umgeht.“ 52 Daraus folgt, dass Wahrnehmung also Bedeutungszuweisung,<br />
Interpretation, Konstruktion bedeutet. 53 Bei diesem Prozess operiert das Gehirn auf der<br />
Gr<strong>und</strong>lage früherer Erfahrung sowie auf stammesgeschichtlichen Festlegungen. Das bedeutet:<br />
Bewusst wird nur das, was bereits gestaltet <strong>und</strong> geprägt ist. In anderen Worten: Als operational<br />
geschlossenes, selbstreferentielles System ist das Gehirn gar nicht in der Lage, Wirklichkeit als<br />
solche abzubilden oder zu repräsentieren. Das Gehirn kann nur konstruieren. Dabei muss es<br />
alle Deutungskriterien aus sich selbst heraus entwickeln. 54 Hierin besteht auch die eigentliche<br />
Funktion des Gehirns. Das Gehirn ist nicht auf eine theoretische Erfassung der Realität<br />
„getr<strong>im</strong>mt“, sondern dient „als praktische oder pragmatische Interpretationseinheit zur<br />
Generierung viabler Handlungsoperationen <strong>und</strong> -konzepte“ 55 . Ein einfaches Beispiel soll als<br />
Veranschaulichung dienen: Wir nehmen eine Pflanze als grün wahr. Dieser Eindruck hat<br />
allerdings wenig mit der hirnunabhängigen Außenwelt der Naturwissenschaftler zu tun, in der<br />
es keine Farben gibt. Dass wir dabei alle grün sehen, liegt daran, dass unsere Gehirne einen<br />
ähnlichen Bauplan <strong>und</strong> eine gleichartige Funktionsweise haben; dies hängt also mit<br />
Intersubjektivität zusammen. 56 Was für Farben zutrifft, gilt in analoger Weise auch für Düfte<br />
<strong>und</strong> für Melodien. Auch sie sind Konstrukte unserer Gehirne <strong>und</strong> existieren in der<br />
extrazerebralen Welt nicht. So kann man sagen, dass unsere Wahrnehmungswelt vieles enthält,<br />
was in der Außenwelt nicht existiert (so wie umgekehrt vieles, was in der Außenwelt<br />
geschieht, von unseren Sinnesorganen nicht rezipiert wird). Exemplarisch sei auf Erlebnisse <strong>im</strong><br />
Zusammenhang eines Drogenrausches hingewiesen, die keine Entsprechung in der Realität<br />
haben. Fassen wir zusammen: Das Gehirn konstruiert unsere subjektive Erlebniswelt, die wir<br />
Wirklichkeit nennen. 57<br />
52 SCHMIDT 1987a, 14.<br />
53 Vgl. ROTH 1986, 14.<br />
54 Vgl. SCHMIDT 1987a, 14-17.<br />
55 KLEIN 2003, 104.<br />
56 Vgl. ROTH 1997, 281. Schmidt weist in diesem Zusammenhang auf zwei wichtige Aspekte hin: 1. Ein<br />
umweltoffenes Gehirn wäre fremdgesteuert <strong>und</strong> heteronom <strong>und</strong> insofern nie in der Lage, komplexe Umwelten zu<br />
bewältigen; 2. Die vom Gehirn konstruierte Wirklichkeit ist zwar kein Fenster nach draußen, aber auch keine<br />
Monade <strong>im</strong> Sinne Leibniz’, da die Wirklichkeit nur unter spezifischen sozialen Bedingungen konstruiert werden<br />
kann. Vgl. SCHMIDT 1987a, 17.<br />
57 Vgl. LAMPE 2006, 46-51.<br />
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