Konstruktivismus, Theologie und Wahrheit - Religionslehrer im ...
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<strong>Wahrheit</strong>sanspruch notwendig zur Unterdrückung führt. 111 „Soziale Systeme, die das Leben<br />
auf vorgeschriebene <strong>Wahrheit</strong>en <strong>und</strong> verordnete hierarchische Systeme festlegen wollen,<br />
brauchen [...] Formen der Tyrannei, die wiederum langfristig soziale Instabilität erzeugen.“ 112<br />
Der <strong>Konstruktivismus</strong> kann zu einer Überwindung dieser Ausbeutung <strong>und</strong> Tyrannei führen.<br />
Wenn wir annehmen, dass wir autopoietische, geschlossene, strukturdeterminierte Systeme<br />
sind, bedeutet dies, dass es uns nicht möglich ist, eine Aussage über eine absolute Wirklichkeit<br />
zu machen. Hinzu kommt, dass jede Aussage, die wir tätigen, eine Aussage mit Hilfe einer<br />
Sprache darstellt. So gehört jede Aussage in den konsensuellen Bereich. Maturana schreibt,<br />
dass jedes Wertesystem, jede Ideologie <strong>und</strong> jede Beschreibung eine Operation in einem<br />
Konsensbereich ist, dessen Gültigkeit nur durch diejenigen hergestellt wird, die sie durch ihr<br />
konsensuelles Verhalten validieren. 113 Insofern sind auch Gut <strong>und</strong> Böse oder Wahr <strong>und</strong> Falsch<br />
keine kontextfreien absoluten Werte – was nicht bedeutet, dass sie beliebig sind. Die<br />
Ernstnahme dieser Erkenntnisse führt zu der Einsicht, dass Werte wie Akzeptanz, Toleranz,<br />
Bescheidenheit, Liebe, Solidarität, Gerechtigkeit sowie die Erfahrung von Empathie, das<br />
Bedürfnis nach Vertrauen, Anerkennung <strong>und</strong> Mitgefühl einen wesentlicheren Stellenwert<br />
erhalten müssen. Maturana zufolge können diese Werte <strong>und</strong> Erfahrungen Gr<strong>und</strong>lage für die<br />
Bildung sozialer Systeme sein, die Ausbeutung <strong>und</strong> Tyrannei ablehnen. Maturana sieht die<br />
Liebe <strong>und</strong> das gegenseitige Vertrauen als „biologisch elementare Bindemittel menschlicher<br />
sozialer Systeme, denn sie führen durch die Schaffung zwischenmenschlicher Sicherheit <strong>und</strong><br />
Zusammenarbeit zu individueller existenzieller Harmonie.“ 114<br />
Die Zurückweisung jedes subjektunabhängigen absoluten Erkenntnis-, <strong>Wahrheit</strong>s- <strong>und</strong><br />
Wertanspruchs ist ebenfalls bedeutsam in Gesprächen über die Einheitlichkeit bzw. die<br />
Verschiedenheit von Menschen <strong>und</strong> Kulturen. 115 Für den Konstruktivisten, demzufolge der<br />
Mensch die Welt, in der er lebt, selber erzeugt, „besteht kulturelle Verschiedenheit nicht in<br />
unterschiedlicher Bearbeitung einer unabhängigen Realität, sondern <strong>im</strong> Aufbau<br />
gleichberechtigter unterschiedlicher Wirklichkeitsmodelle.“ 116 Da Werte ausschließlich<br />
kulturspezifisch <strong>und</strong> historisch sind, gibt es erstens keinen Maßstab, um eine Kultur als<br />
111 Vgl. SCHMIDT 1987a, 47.<br />
112 SCHMIDT 1987a, 45-46.<br />
113 Vgl MATURANA 1982, 29-30.<br />
114 MATURANA 1982, 30. Liebe ist hier wohl allerdings nicht gemeint als Gefühl, sondern <strong>im</strong> Sinne Luhmanns:<br />
Liebe ist ein Medium, eine Verhaltensweise, die eine best<strong>im</strong>mte soziale Funktion erfüllt. Vgl. WALLICH 1999,<br />
556. Wallich weist darauf hin, dass Liebende ein autopoietisches System bilden: „Das Verhältnis der Liebenden<br />
ist [...] so wechselseitig, dass es kein Außerhalb der Liebe gibt <strong>und</strong> jede Handlung bzw. jedes Erleben in ihrer<br />
Wirkung auf den Partner wichtig ist. Vgl. WALLICH 1999, 556.<br />
115 SCHMIDT 1987a, 46.<br />
116 SCHMIDT 1987a, 46.<br />
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