Online-Journalismus - Netzwerk Recherche
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Interview<br />
Bundespräsidenten Horst Köhler zum Thema Auslandseinsätze der Bundeswehr<br />
– Deutschlandradio Kultur hatte die Brisanz des eigenen Materials offenbar nicht<br />
erkannt, einige Blogger schon. In diesem Fall allerdings griffen Mainstream medien<br />
das Thema kurz darauf aufgrund von Leserbriefen etc. selbst auf, unabhängig von<br />
der Berichterstattung in Blogs. Ein weiteres Beispiel wäre der tätliche Angriff auf<br />
einen Demonstranten bei der „Freiheit statt Angst“-Demonstration in Berlin, der<br />
von einem Passanten auf Video festgehalten, online gestellt, von Blogs aufgegriffen<br />
wurde und so schnell die Mainstream-Medien erreichte (all das innerhalb<br />
weniger Stunden), was zu Ermittlungen gegen die betreffenden Beamten führte.<br />
Diese Art von Aufsicht über Ereignisse im öffentlichen Raum ist langfristig womöglich<br />
die wichtigste quasi-journalistische Aufgabe digitaler Gegenöffentlichkeiten.<br />
Handy-Kameras sind schließlich überall.<br />
Welche strategischen Vorteile haben Blogs im Kontrast zum „etablierten <strong>Journalismus</strong>“?<br />
Ich würde eher von taktischen Vorteilen sprechen. Blogs sind nicht notwendigerweise<br />
journalistischen Standards verpflichtet: Gegenchecken, Fakten prüfen,<br />
Gegenstimmen einholen etc. Sie können deshalb auf viele Ereignisse und Meldungen<br />
deutlich schneller reagieren. Beispiel: Die Enttarnung des ersten Mannes,<br />
der in „Tatort Internet“ als potentieller pädophiler Straftäter vorgeführt<br />
wurde, vermeldete Netzpolitik.org einen Tag früher als beispielsweise Spiegel<br />
<strong>Online</strong> – weil die mühevolle Aufgabe, alle Behauptungen zu verifizieren, für die<br />
Blogautoren entfiel.<br />
Wo sehen Sie die wesentlichen Defizite von Blogs in Deutschland?<br />
Ich halte die Frage für falsch gestellt. Da Blogs keine konkret definierte Aufgabe<br />
haben, kann man ihnen auch nicht konkrete Defizite vorwerfen. Es gibt zehn-,<br />
womöglich hunderttausende Blogs in Deutschland, die meisten haben keinerlei<br />
journalistischen Anspruch. Ein oft erhobener und sicher nicht ganz falscher Vorwurf<br />
ist: Nach wie vor beschäftigen sich viele der meistgelesenen deutschen Blogs<br />
vor allem mit der Blogosphäre, mit Social Media, mit Medien, also mit, im weitesten<br />
Sinne, Selbstbespiegelung. Das ist in den USA längst anders – aber dort sieht<br />
auch die übrige Medienlandschaft anders aus als bei uns.<br />
Einer der führenden <strong>Online</strong>-Journalisten einer führenden Tageszeitung sagte<br />
kürzlich: „Die Bedeutung und Reichweite des <strong>Online</strong>-<strong>Journalismus</strong> in Deutschland<br />
wird überschätzt.“ Teilen Sie diese Einschätzung?<br />
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