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Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Ansichten einer marktgerechten Germanistik 319<br />

<strong>Das</strong> Verwertungsinteresse an der Soziolinguistik, insbesondere der<br />

sogenannten kompensatorischen Spracherziehung, ist inzwischen<br />

mehrfach dargestellt worden 15 . Dabei ist deutlich geworden, daß die<br />

Erziehung der Arbeiterkinder zum bürgerlichen Mittelschichten-<br />

Code selektive Funktion im Sinne einer bürgerlichen Erziehungsstrategie<br />

hat. Sie führt nicht zur Bewußtwerdung oder gar Veränderung<br />

der materiellen Lebensbedingungen der „Unterschicht", sondern<br />

fügt der sozialen die sprachliche Diskriminierung hinzu; sie<br />

dient der Auslese einiger weniger Arbeiterkinder, die sich im Sinne<br />

des elaborierten Mittelschichten-Codes sprachlich „qualifizieren"<br />

lassen und läßt die Masse der restringierten Sprecher alö „unqualifizierte"<br />

zurück. Damit reproduziert sie auf nur scheinbar immanent-methodologischer<br />

Ebene genau den Widerspruch von Qualifikation<br />

und Dequalifikation, wie er den Arbeitsmarkt der „fortgeschrittenen<br />

Industriegesellschaft" bestimmt 16 . Welche Funktion<br />

kommt nun dem verbliebenen Literaturunterricht zu? Wie definiert<br />

er sein Selbstverständnis? An die Stelle der weitgehend überflüssig<br />

gewordenen ideologischen Verbrämung oder historischen Beglaubigung<br />

des Bestehenden tritt die zweckrationale Erlernung technischer<br />

Fertigkeiten und Verfahren, die gerade dadurch, daß sie pragmatistisch<br />

und unter immanent funktionalen Voraussetzungen ausgeübt<br />

werden, den Handelnden von der Reflexion über die gesamtgesellschaftliche<br />

Notwendigkeit und Richtigkeit seines Tuns entbinden.<br />

Wie in anderen Wissenschaften soll es auch in der künftigen Literaturwissenschaft<br />

weniger um das Erarbeiten von Inhalten als um<br />

das Erlernen von Verfahren gehen. <strong>Das</strong> „Operieren mit Instrumentarien",<br />

vorzugsweise dem der „Textanalyse" 17 , rückt in den Vordergrund.<br />

Die Hinwendung der Wissenschaften zur Operationalität resultiert<br />

aus der zunehmenden Mobilität der gehobenen und höheren<br />

Berufsbilder (einer der wichtigsten Veränderungen in der Qualifikationsstruktur<br />

des „technischen Spezialisten") als Folge der zunehmenden<br />

Mobilität der Produktion 18 . Die „Wissenschaft von Texten"<br />

als operationale Wissenschaft 19 dient (ebenso wie die Sprach-<br />

Literatur im Deutschunterricht an Oberschulen. In: Girnus/Lethen/Rothe,<br />

Von der <strong>kritische</strong>n zur historisch-materialistischen Literaturwissenschaft,<br />

Berlin 1971, S. 90.<br />

15 Vgl. J. Beck/Martin Berg, Offenbachprojekt — Sprachförderung,<br />

Wygotskis Sprachtheorie in der Schulpraxis. In: Ästhetik und Kommunikation<br />

2 (1970), S. 22ff.; K. Ehlich/J. Hohnhäuser/F. Müller/D. Wiehle,<br />

Spätkapitalismus •— Soziolinguistik — Kompensatorische Spracherziehung.<br />

In: Kursbuch 24 (1970), S. 33 ff.<br />

16 Wie eine nicht-selektive Sprachförderung von Arbeiterkindern aussehen<br />

könnte, haben Johannes Beck und Martin Berg in ihren Offenbacher<br />

Schul versuchen zu zeigen versucht. Vgl. M. Berg, Sprachförderung in der<br />

Grundschule, Offenbach 1971 (Ms.).<br />

17 W. Isar, a.a.O., S. 197.<br />

18 Vgl. E. Altvater, a.a.O., S. 53 ff.<br />

19 W. Iser, a.a.O., S. 197.

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