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Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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228 Bernd Jürgen Warneken<br />

tion z. B. zur künstlerischen" erwähnt hat 7S . Beide Erscheinungen<br />

einer solchen Verselbständigung des kulturellen Überbaus, Vorauseilen<br />

und Zurückbleiben gegenüber der gesellschaftlichen Basis, sind<br />

aber in dieser selbst begründet. Was' die langsamere Entwicklung von<br />

Kunst und Literatur angeht, so wird sie dadurch ermöglicht, daß<br />

jeder durch die Arbeitsteilung einmal entstandene eigene Bereich<br />

sich nicht automatisch mit den ökonomischen Verhältnissen umwälzt,<br />

sondern sich nur in Anlehnung an sein spezielles Material weiterentwickelt.<br />

Ein solches Weiterwirken der Tradition ist, wie Engels<br />

sagte, zwar „eine große hemmende Kraft [...]. Aber sie ist bloß<br />

passiv und muß deshalb unterliegen 74 ." Um langfristig erhalten zu<br />

bleiben, muß sie von einem aus der neuen Basis resultierenden Bedürfnis<br />

reproduziert werden. In der bürgerlichen Gesellschaft erklären<br />

sich Verzögerungen in der Kunst- und Literaturentwicklung<br />

speziell aus der erwähnten Kunstfeindlichkeit der auf Mehrwertproduktion<br />

ausgerichteten ökonomischen Verhältnisse. Als weiteren,<br />

damit zusammenhängenden Grund <strong>für</strong> die Beibehaltung älterer<br />

Überbauelemente nannte Marx am Beispiel des Politischen ein „Gefühl<br />

der Schwäche, das [die Bourgeoisie] vor den reinen Bedingungen<br />

ihrer eignen Klassenherrschaft zurückbeben [...] ließ", da die Republik<br />

zwar ihre politische Herrschaft vollende, aber ihre gesellschaftliche<br />

Grundlage unterwühle 75 ; Adorno schrieb, daß die Kulturindustrie<br />

ideologischen Rüdshalt gerade daran habe, daß sie sich vor der<br />

vollen Konsequenz ihrer äußeren Techniken in den Produkten sorgsam<br />

hüte 76 .<br />

73 Marx, Grundrisse, a.a.O., S. 29.<br />

74 Engels, Einleitung zur englischen Ausgabe (1892) von „Die Entwicklung<br />

des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", MEW Bd. 19, S. 543.<br />

75 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW<br />

Bd. 8, S. 140.<br />

76 „Sie lebt gleichsam parasitär von der außerkünstlerischen Technik<br />

materieller Güterherstellung, ohne die Verpflichtung zu achten, die deren<br />

Sachlichkeit <strong>für</strong> die innerkünstlerische Gestalt bedeutet [...]. Daraus<br />

resultiert das <strong>für</strong> die Physiognomik der Kulturindustrie wesentliche Gemisch<br />

aus streamlining, photographischer Härte und Präzision einerseits<br />

und individualistischen Restbeständen, Stimmung, zugerüsteter, ihrerseits<br />

bereits rational disponierter Romantik" (Th. W. Adorno, Résumé über<br />

Kulturindustrie, in: ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Ffm. 1967,<br />

S. 64). — <strong>Das</strong> heißt nicht, daß es keine Dialektik von Zurückbleiben und<br />

Antizipation gäbe. In archaisch handwerklichen Arbeitsweisen kann u. U.<br />

trotz allem Avancierteres produziert werden als mit modernsten Produktionsmitteln,<br />

deren Verwendung von Sonderinteressen restringiert ist;<br />

Brecht meinte ähnliches, als er sagte, Dramatiker oder Romanschreiber<br />

könnten zuzeiten wohl filmischer arbeiten als die Filmleute selbst (Bertolt<br />

Brecht, Gesammelte Werke Bd. 18, a.a.O., S. 157). Prekär ist aber nicht<br />

nur ein Verzicht auf die fortgeschrittensten Arbeitsmittel, sondern überhaupt<br />

der Versuch von Kunst, sich zum Anwalt des Besonderen zu machen,<br />

das der- Abstraktheit der herrschenden ökonomischen Gesetze widerstreitet:<br />

er läuft häufig genug nur darauf hinaus, die Realität dieser Gesetze<br />

überhaupt zu mißachten. Dann aber dient Kunst nicht nur, als bloße<br />

irrationale Sondersphäre, einer meist kleinbürgerlichen Kompensation,

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