Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Ansichten einer marktgerechten Germanistik 323<br />
von Distanz 28 ." Bleiben wir beim Beispiel der Werbetextanalyse:<br />
„Distanz" in diesem Sinn wird dann darin bestehen, daß der „Gebildete",<br />
der Aufbau, sprachliche Mittel und sozialpsychologische<br />
Wirkungsmechanismen von Werbetexten „durchschaut" hat, sich<br />
dadurch der „Verführung" durdi Werbung individuell entzogen<br />
glaubt. Oder daß er einen „guten Werbetext" als ein „gelungenes<br />
Stück Prosa" goutiert 27 — ein Effekt, der übrigens von den Werbeagenturen<br />
längst als Stimulus der Konsumbereitschaft verwendet<br />
wird. Eine Literaturwissenschaft, die ihre <strong>Theorie</strong> mit dem „Wissen<br />
um die Relativität und Wertneutralität jeden Handelns, also auch<br />
des Sprach-Handelns" 28 begründet, wird damit letztlich auch Schüler<br />
produzieren, die nicht nur gelernt haben, „Texte aller Art" auf die<br />
beschriebene Weise zu analysieren, sondern die audi fähig sind,<br />
Texte aller Art, also audi verhetzende und verdummende, unter dem<br />
nur noch funktionalen Kriterium einer optimalen Korrelation von<br />
angewandten sprachlichen Mitteln und beabsichtigter Wirkung abzufassen.<br />
Für die vermittelten Inhalte wird sich diese künftige<br />
Lese- und Schreib-Technik ebensowenig verantwortlich fühlen wie<br />
die Public-Relation-Agentur <strong>für</strong> die Qualität der von ihr angepriesenen<br />
Ware. Die Frage nach dem nicht mehr nur funktionalen<br />
„Sinn" wissenschaftlicher Arbeit wird zur „Gesinnungssache" 29<br />
erklärt. Die Hoffnung des Lehrers, daß es dem Schüler prinzipiell<br />
möglich sein werde, scheinbar wertindifferente wissenschaftliche<br />
Verfahren in den Dienst einer repressiven ebenso wie einer emanzipatorischen<br />
Praxis zu stellen, berücksichtigt nicht, daß eben „die<br />
Effizienz des Bildungssystems am Kriterium des Arbeitsmarkts<br />
gemessen wird . . . Der Arbeitsmarkt aber ist den Prinzipien privater<br />
Machtausübung unterworfen und insofern ist gerade vom Arbeitsmarkt<br />
nicht zu erwarten, daß auf ihm Qualifikationen nachgefragt<br />
werden, die jenseits des technisch-funktionalen Wissens <strong>kritische</strong><br />
Intelligenz verkörpern und die Prinzipien privatkapitalistischer<br />
Herrschaft in Frage stellen würden 80 ."<br />
Erstaunlicherweise wird die aufgezeigte Reduktion des Erkenntnisanspruchs<br />
in den einschlägigen Modellen immer wieder als „Verwissenschaftlichung"<br />
der Germanistik, als Absage an sogenannte<br />
„außerwissenschaftliche Zielsetzungen" ausgegeben und der ge<strong>für</strong>chteten<br />
Politisierung des Fachs entgegengesetzt. Die alte nationalwissenschaftliche<br />
und nationalistische Ideologie der Germanistik<br />
wird dabei gern als Alibi benutzt, um jedes historisch-gesellschaftliche<br />
Erkenntnisinteresse von vornherein als „ideologisch" zu denun-<br />
26 W. Iser, a.a.O., S. 197.<br />
27 Auf dieser Linie bewegt sich L. Spitzer, Amerikanische Werbung<br />
als Volkskunst verstanden. In: Sprache im technischen Zeitalter, H. 11/12<br />
(1964), S. 951 ff.<br />
28 W. Teschner, a.a.O.<br />
29 W. Teschner: „<strong>Das</strong> Fach Sprache und Literatur ist kein Gesinnungsfach"<br />
(a.a.O.).<br />
30 E. Altvater, a.a.O., S. 65.