Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Gerhard Voigt<br />
Sachlichkeit und Industrie<br />
Anmerkung zu zwei Büchern über die Neue Sachlichkeit 1<br />
243<br />
Die Beschäftigung mit der Weimarer Republik hat in der BRD<br />
bisher überwiegend legitimierenden Charakter gehabt. Gleich, ob<br />
man die zwanziger Jahre zum goldenen Jahrzehnt des Jahrhunderts<br />
stilisierte 2 oder an Diskussionen dieser Zeit anknüpfte, immer wurde<br />
die Kontinuität von Weimar und Bonn — unter strikter Ausklammerung<br />
des Faschismus — beschworen. Allerdings ist eine auf den<br />
ersten Blick geringfügige Gewichtsverlagerung von den frühen<br />
zwanziger Jahren auf die Endphase der Weimarer Republik zu<br />
bemerken 3 . Deutlicher wird die Akzentverschiebung, drückt man sie<br />
in kunstgeschichtlichen Begriffen aus: an die Stelle des Expressionismus<br />
tritt in der allgemeinen Wertschätzung Sa immer deutlicher die<br />
Kunst der Neuen Sachlichkeit 4 . Dabei bezeichnet das Etikett der<br />
Neuen Sachlichkeit (auch Neorealismus, Neoklassizismus o. ä.) erst<br />
einmal alle realistische Kunst der Weimarer Republik.<br />
Dem seit etwa 1960 verfolgbaren Interesse an der Neuen Sachlichkeit<br />
entspricht ihre inzwischen ganz offensichtlich gewordene Wirkung<br />
auf zeitgenössische Kunstströmungen, die mehr schlecht als<br />
recht unter dem Titel Neuer Realismus zusammengefaßt werden.<br />
Vergegenwärtigt man sich das demokratische Engagement vieler<br />
Realisten, deren Arbeit mit der Zeit der Kritik am CDU-Staat, der<br />
1 Schmied, Wieland: Neue Sachlichkeit und Magischer Realismus in<br />
Deutschland 1918—1933. Fackelträger Verlag Schmidt-Küster, Hannover<br />
1969 (332 S., Ln., 64— DM).<br />
Lethen, Helmut: Neue Sachlichkeit 1924—1932. Studien zur Literatur des<br />
„Weißen Sozialismus". J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart<br />
1970 (214 S., kart., 20,— DM).<br />
2 So zuletzt in einer Fernsehserie und einem Buch: Thilo Koch, Die<br />
goldenen zwanziger Jahre, Frankfurt/M. 1970.<br />
3 Vgl. z.B.: Richard M. Gusenberg und Dietmar Meyer (mit einem<br />
Essay von Johannes Gross), Die dreißiger Jahre, Frankfurt/M.-Berlin-<br />
Wien 1970.<br />
3a <strong>Das</strong> ist neben einer Reihe von Ausstellungen u. a. an den im Kunsthandel<br />
in den letzten Jahren rapide steigenden Preisen <strong>für</strong> Arbeiten etwa<br />
Anton Räderscheidts, Heinrich Maria Davringhauses, Christian Schads<br />
oder Alexander Kanoldts zu verfolgen.<br />
4 Wie eine Reihe der Hauptwerke des Expressionismus bereits vor<br />
dem 1. Weltkrieg entstanden, so auch Arbeiten der Neuen Sachlichkeit<br />
direkt nach dessen Ende. Trotzdem wird die Zeit der Durchsetzung<br />
beider Stile zu Recht mit der 1. bzw. 2. Hälfte der zwanziger Jahre verbunden.