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Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Zum Stand der Trivialliteratur-Forschung 235<br />

Unter dem Oberbegriffspaar „Wunschträume und Ersatzbefriedigung"<br />

führt Dorothee Bayer den Erfolg der Trivialliteratur auf die<br />

Sehnsucht der Leser zurück, der Alltagswelt zu entrinnen und in<br />

eine idealisierte Traumwelt entrückt zu werden. „Seit Beginn des<br />

Industrie- und Massenzeitalters" sei „<strong>für</strong> viele Menschen der Alltag<br />

und das Leben schlechthin langweilig, leer, unbefriedigend und<br />

somit <strong>für</strong> ihr Empfinden elend und trist geworden" (b 168). Die<br />

Zusätze „<strong>für</strong> viele Menschen" und „<strong>für</strong> ihr Empfinden" sollen suggerieren,<br />

daß diese Frustrationen in Wirklichkeit nicht existieren,<br />

daß sie nur fälschlich von bestimmten Leuten empfunden werden.<br />

Die Darstellung der in der Trivialliteratur gebotenen „Wunschwelt"<br />

ist in ähnlicher Weise ständig kontrapunktiert von der Weigerung,<br />

über die Widersprüche der Existenz zu reflektieren und daraus die<br />

eigentlichen Kriterien <strong>für</strong> die Beurteilung der Funktion dieser Literatur<br />

zu gewinnen. Es wird richtig erkannt, daß der Trivialroman<br />

ein konservatives Weltbild vermittelt, daß seine Klischees unwirklich,<br />

verfälschend wirken, daß seine Abenteuer ein „sentimentales<br />

Genießen des andauernden Ausnahmezustandes" erlauben, daß sie<br />

die Flucht in die Geborgenheit der vorindustriellen Idylle vor dem<br />

„täglichen Leben mit seinem hastenden Arbeitsrhythmus, der Vermassung,<br />

der Mechanisierung" erlauben (b 168). Es wird von der<br />

Weltfremdheit des dort gebotenen Ersatzlebens gesprochen, das einen<br />

Ausgleich biete zum „elenden" wirklichen Leben der Leser. Der<br />

Trivialroman setze ein „stimmiges" Ideal dem eigenen unstimmigen<br />

Leben des Lesers entgegen. Dieser verbinde dann mit der „Kraft<br />

des Prälogisch-Assoziativen im Volksmenschen" die angebotenen<br />

Klischees mit anderen von der Kulturindustrie vorgeformten Schablonen<br />

zu einer „positiven Bestätigung" der bestehenden Ordnung<br />

(b 169). Nach dieser positiven Bestätigung im irrealen Bereich der<br />

literarischen Fiktion kann in der Tat um so eher ein Bedürfnis<br />

installiert werden, je weniger die Realität eine positive Haltung zur<br />

eigenen Situation möglich macht, d. h. je mehr Unterdrückung durch<br />

Zwänge der Klassengesellschaft Selbstverwirklichung verhindert.<br />

Bayer betont dabei immer wieder die „Realitätsferne" dieser Ideale<br />

und Wunschträume, ohne die Beziehungen, die diese mit der Realität<br />

des Lesers haben müssen, zum Untersuchungsgegenstand zu<br />

machen. Gerade dies aber wäre Grundlage einer <strong>Theorie</strong> der Massenkultur<br />

in der Gesellschaft. Der kommerzielle Erfolg dieser Erzeugnisse<br />

könnte nicht zustande kommen, wenn die in dieser Literatur<br />

vorkommenden Vorstellungen nicht auf Bedürfnisse antworteten,<br />

deren Befriedigung zur Harmonisierung von Zwängen einer bestimmten<br />

Entwicklungsstufe der Klassengesellschaft beiträgt. Denn<br />

die dazu angebotenen Ideale müssen, so sehr sie sich von der Realität<br />

entfernen, doch wenigstens tendenziell zur Überwindung ihrer Widersprüche<br />

taugen, wenn sie „Lebenshilfe" sein sollen. Die Ideale<br />

sind solche einer Vergangenheit, in der die Ausrichtung der Verhaltensweisen<br />

und Wertvorstellungen nach ihnen noch förderlich <strong>für</strong><br />

die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung war. Jetzt, in der<br />

Restaurationsphase, wird die Propagierung dieser Ideale in der Fik-

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