Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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376<br />
Besprechungen<br />
Im einleitenden Kapitel ,über alles in der Welt' — Anfänge<br />
und Weg des deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert" von<br />
E. Rudolph wird auf dem Hintergrund der „Auswüchse des Nationalismus",<br />
der die Vergangenheit befleckt habe (7), die jeweilige<br />
idealistische Jugend (1813,1848, 1870/71...) in Schutz genommen (16),<br />
wenn auch eine Art von objektiver Schuld konstatiert wird (7). Denn:<br />
„Sie waren nicht mehr und nicht weniger beschränkt als frühere Geschlechter<br />
oder gar als die heutige Generation, die immerhin die<br />
Erfahrung ihrer Väter und Vorväter nutzen kann. Es ist keinesfalls<br />
ein Zeichen <strong>für</strong> ihr besseres Urteilsvermögen, wenn sie, die ja die<br />
Resultate des Nationalismus kennt, nunmehr die Väter ins Glashaus<br />
setzt, um danach mit Steinen zu schmeißen" (16/7). Konsequenterweise<br />
könnte man auch in diesem Satz — „So wurden sie schuldig,<br />
ohne daß sie — oder doch die meisten von ihnen — schlechter waren<br />
als die heutigen Revolutionäre, denn zum überwiegenden Teil wußten<br />
sie nicht, was sie taten" (7) — ergänzen: Im Gegenteil! — Zumal<br />
vorher der jetzigen jungen Generation unterstellt wird, daß sie „vorstellungslos<br />
auf die Mao-Bibel schwört" und „langhaarig und ungewaschen<br />
— mit den Spießbürgern aufräumen will" (7). Durch Feststellung<br />
von Schuld einer bestimmten Gruppe kann man also von der<br />
Analyse der das Verhalten bestimmenden Gesellschaftsform ablenken.<br />
Hier wird die apologetische Funktion solcher und ähnlicher Totalitarismen<br />
deutlich.<br />
Nation wird in Staats- und Kulturnation geschieden, Nationalbewußtsein<br />
als „Gemeinschaftssinn eines ganzen Volkes", als „jenes<br />
kollektive Interesse, dem der einzelne seine Wünsche anpaßt" (8)<br />
begriffen. Nationalismus ist dagegen „pathologischer Art" (9), ein<br />
aus Hybris „hergeleiteter imperialistischer Machtanspruch" — kurz<br />
eine „lebensgefährliche Krankheit eines Volkes", deren „Hauptanstifter"<br />
in Deutschland zumindest Kranke gewesen sind, die ihre<br />
Minderwertigkeitsgefühle „in nationalistischen Kraftakten abreagiert"<br />
haben (9). Die Gründe <strong>für</strong> das Aufkommen des deutschen<br />
Nationalismus, der mit einigen Zitaten charakterisiert wird, werden^<br />
in der politischen Entwicklung seit der Französischen Revolution ge-f<br />
sucht und gefunden: napoleonische Fremdherrschaft, Reaktion, gescheiterte<br />
Revolution von 1848, Einigung Kleindeutschlands durch<br />
Preußen 1871 (10 ff.). Die Erklärung eines Phänomens durch ein anderes<br />
des gleichen gesellschaftlichen Bereiches vermag daher nicht zu<br />
zeigen, weshalb dieser — politische — Bereich sich so und nicht anders<br />
entwickelt hat. Billigt man dann noch der gesellschaftlichen Entwicklung<br />
Zwangsläufigkeit zu und spricht das deutsche Volk schuldig<br />
(17), so lassen sich die gesellschaftlichen Ursachen einer solchen Entwicklung<br />
nicht mehr ausmachen und der Fatalismus verhindert deren<br />
Veränderung.<br />
Alfred Prügels Kapitel: „Ein großer Verführer: Heinrich von<br />
Treitschke" räumt den persönlichen Verhältnissen (Krankheit, Elternhaus,<br />
Ehefrau) relativ viel Raum ein, ohne den Einfluß der psychologischen<br />
Motivationen auf die Entwicklung Treitschkes näher zu<br />
bezeichen: so bewunderte Treitschke nicht die demokratischen Ver-