30.01.2013 Aufrufe

Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

222 Bernd Jürgen Warneken<br />

wie es in der Deutschen Ideologie heißt, dem Menschen „nur durch<br />

die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen<br />

Verkehr gegeben" sind. „Der Kirschbaum", fügen Marx und<br />

Engels hinzu, „ist, wie fast alle Obstbäume, bekanntlich erst vor<br />

wenigen Jahrhunderten durch den Handel in unsre Zone verpflanzt<br />

worden [...] 52 ". Auch das Naturverhältnis des Menschen ergibt sich<br />

aus den gesellschaftlichen Beziehungen; selbst die Erfahrung tatsächlich<br />

unbetretner Natur geschieht in Abhängigkeit von der bereits<br />

angeeigneten 53 .<br />

In Aussagen über die künstlerische Arbeitskraft findet sich das<br />

Mißverständnis der Natürlichkeit vor allem auch in den Meinungen<br />

über die sinnliche Wahrnehmung, welche die Methoden der Kunstproduktion<br />

mitbestimmt. Daß auch sie geschichtlich sich ändert,<br />

übersah noch Franz Mehring, als er sagte, die Frage, wie die Menschen<br />

empfinden könnten, gehöre in die Naturwissenschaft, in die<br />

Physiologie der Sinnesorgane 64 . Die Wiener kunsthistorische Schule<br />

— Benjamin erwähnt es im Kunstwerkaufsatz — hatte bereits den<br />

Wandel von der antiken zur spätrömischen Kunst mit dem der<br />

Apperzeption in Verbindung gebracht, ohne freilich die Ursachen<br />

dieser Veränderung finden zu können; Wölfflin, der in seiner<br />

„Kunstgeschichte ohne Namen" die Geschichte der „Sehformen"<br />

behandelt, geht davon aus, daß diese immanenten, von „äußeren"<br />

Einflüssen freien Gesetzen folge 56 . In Wahrheit wandelte sich das<br />

Sensorium auf der Grundlage der Entwicklung materieller Praxis;<br />

nach der bekannten Formulierung von Marx ist „die Bildung der<br />

5 Sinne eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte [...], die<br />

Geschichte der Industrie und das gewordne gegenständliche <strong>Das</strong>ein<br />

der Industrie [ist] das auf geschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte,<br />

die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie [...] 66 ".<br />

Was die anderen Bestimmungsgründe der künstlerischen Arbeitskraft<br />

als wichtigstem Moment der literarischen Arbeit angeht, so<br />

werden sie innerhalb dieses Texts im wesentlichen aus der Betrachtung<br />

des literarisch Vergegenständlichten deutlich. Aufgegriffen sei<br />

hier deshalb nur die Frage des Zusammenwirkens von subjektiven<br />

und objektiven Faktoren in der literarischen Arbeit, deren Beant-<br />

52 MEW Bd. 3, S. 43.<br />

53 Dies ist der Ausgangspunkt jeder Erörterung über die <strong>Theorie</strong>n des<br />

Naturschönen. Ein Beispiel zu deren Analyse gibt Adorno : „Wo Natur real<br />

nicht beherrscht war, schreckte das Bild ihres Unbeherrschtseins. Daher<br />

die längst befremdende Vorliebe <strong>für</strong> symmetrische Ordnungen der Natur.<br />

Sentimentalische Naturerfahrung hat sich am Unregelmäßigen, Unschematischen<br />

erfreut, in Sympathie mit dem Geist des Nominalismus" (Th. W.<br />

Adorno, Ästhetische <strong>Theorie</strong>, a.a.O., S. 102 f.).<br />

54 Franz Mehring, Ästhetische Streifzüge, in: F. M., Gesammelte Schriften<br />

Bd. 11, Berlin/DDR 1961, S. 164.<br />

55 Cf. dazu Arnold Hauser, Philosophie der Kunstgeschichte, München<br />

1958, S. 130 passim.<br />

56 Marx, ökonomisch-philosophische Manuskripte..., a.a.O., S. 541 f.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!