Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Romanistik und Anti-Kommunismus 295<br />
bewältigung der bundesrepublikanischen Romanistik, die an den<br />
Worten des Bonner Orakels nie gezweifelt hat, nennen muß. Ja, man<br />
benutzte gerade Curtius und dessen nie gelesene ominöse Schrift, die<br />
angeblich gegen die Nazis gerichtet war, zur Beweisführung, daß die<br />
deutsche Romanistik sich gar nichts vorzuwerfen habe. Wie unbefangen<br />
und eigentlich auch ungeniert man dabei zu Werke ging, zeigt<br />
ein Blick in einige Aufsätze von Kurt Wais, dem man seine Ausflüge<br />
in die nationalsozialistische Ideologie während der NS-Zeit aufgrund<br />
seines Alters nachsehen könnte. 1958 aber erschien in Berlin<br />
seine Aufsatz-Sammlung An den Grenzen der Nationalliteraturen, in<br />
der er sich von der Vergangenheit zu trennen scheint, wobei er sich<br />
— eine Hand wäscht die andere — auf die Schrift von Curtius über<br />
den Deutschen Geist in Gefahr beruft: „Am schwersten [bei der<br />
Suche nach dem eigentlich Wahren der französischen Literatur] hatte<br />
es diejenige Generation, die [wie Kurt Wais] zu Anfang der dreißiger<br />
Jahre begann, sich über die französische Literatur zu äußern. Welche<br />
Maßstäbe waren damals nicht erschüttert? . . . Curtius selbst schwieg<br />
bis zu seinem desillusionistischen [!] .Rückblick 1952' über die Ent-<br />
' täuschung, die ihm [!] verschiedene Autoren bereiteten, von denen er<br />
1914 die Stiftung einer liberalen Welt erhofft hatte. Als er 1932 seine<br />
Schrift .Deutscher Geist in Gefahr' veröffentlichte, nahmen wir, die<br />
damals junge Generation, seine strengen Mahnungen, das deutsche<br />
idealistische Erbe nie aus dem Auge zu lassen, ebensowenig hinreichend<br />
zu Herzen wie seine gleichzeitig enttäuschte Beurteilung<br />
des damaligen literarischen Frankreich, an dessen Wegbereiterschaft<br />
er nicht mehr glaubte, während er gleichzeitig riet, <strong>für</strong> Italien den<br />
Geist weit zu öffnen 87 ." Wer hinreichend Sinn <strong>für</strong> Komik hat, mag<br />
sich an der Vorstellung erfreuen, Frankreich habe den großen Curtius<br />
einfach enttäuscht. Gar nicht komisch ist jedoch, daß Kurt Wais<br />
(wahrscheinlich als quantité négligeable) verschweigt, daß es sich um<br />
das faschistische Mussolini-Italien handelte, in dem der von Frankreich<br />
verlassene Curtius nun plötzlich das Heil erblickte. Aber diese<br />
Information hätte ihn bei seiner eigenen „Distanzierung" von der<br />
braunen Romanistik-Vergangenheit nur gestört, denn diese „Distanzierung"<br />
erfolgte auf <strong>für</strong> die ganze bundesrepublikanische Romanistik<br />
symptomatische Art und Weise: man änderte weder die Methoden<br />
noch den (meist reaktionären) Forschungsgegenstand, sondern<br />
man verzichtete auf das zwischenzeitlich angepaßte NS-Vokabular.<br />
Die „Distanzierung" erfolgt bei Kurt Wais in der nun „a-politisch"<br />
oder genauer: „un-nationalsozialistisch" vorgetragenen Apologie der<br />
gleichen Autoren und der gleichen Gefühle, <strong>für</strong> die und mit denen<br />
der junge Wais bereits 1933 geschwärmt hatte, als er noch an „einen<br />
echten Kontakt der damaligen deutschen Jugend mit Roger Martin<br />
du Gard, mit Drieu La Rochelle und André Chamson . . . , mit Henry<br />
de Montherlant und Marcel Jouhandeau, mit Jean Giono, Alphonse<br />
de Châteaubriant und Joseph de Pesquidoux" 88 glaubte.<br />
87 An den Grenzen der Nationalliteraturen, Berlin 1958, 107.<br />
88 Ib.