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Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Philosophie 357<br />

tisch dem Gesammelten Gemeinsame dingfest zu machen, stellt das<br />

herausgegebene Lektorat in bezug auf die Literatur fest: „Der Band<br />

spiegelt nicht nur, was sein sollte, sondern auch, was ist", damit ausdrückend,<br />

daß Literatur ein gesellschaftliches Produkt ist, unabhängig<br />

davon, was ihre Interpreten meinen, was sie sei oder was sie<br />

sein solle. Mit größerem Recht könnte man den Satz statt auf die<br />

Literatur auf die Wissenschaft von ihr beziehen, nicht auf die herrschende<br />

zwar, sondern auf die, die die historisch-gesellschaftliche<br />

Substanz ihres Gegenstands einbezieht, sich in Opposition zu jener<br />

befindet.<br />

Der Sammelband ist also, wenn auch vielleicht nicht repräsentativ,<br />

so doch typisch <strong>für</strong> die gegenwärtige „linke" Literaturwissenschaft in<br />

der BRD: Die programmatisch im Titel geforderte Grundlegung des<br />

Verhältnisses von Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften<br />

wird vom Standpunkt der Kritischen <strong>Theorie</strong>, vom Standpunkt des<br />

frühen und vom Standpunkt der Gesellschaftstheorie des nicht mehr<br />

so frühen Marx, vom Standpunkt der Blochschen Philosophie und<br />

schließlich selbst vom Standpunkt der Habermasschen Hermeneutik<br />

versucht. Es verwundert daher nicht, daß die Autoren des Bandes<br />

sich nicht einmal einig sind in fundamentalen Fragen einer <strong>Theorie</strong><br />

der Gesellschaft, geschweige denn über ihre Anwendung auf den<br />

spezifischen Bereich der Literaturproduktion. So nennt der eine „Industriegesellschaft"<br />

(Glaser, 355), was beim anderen richtig „Monopolkapitalismus"<br />

(Warneken, 125) heißt, so kritisiert der eine zu<br />

Recht, daß die positivistische Literaturwissenschaft Marx unterstellt,<br />

er sehe die Ursachen der Entfremdung in der Arbeitsteilung (Warneken,<br />

114 f.), während der andere trotz sicher ehrlich bekundeter<br />

Ablehnung positivistischer Literatursoziologie genau dieser Entfremdungskonzeption<br />

aufsitzt (Hahn, u. a., 160).<br />

Uneinheitlich wie der Begriff von der Gesellschaft ist bei den<br />

Autoren auch der Begriff von der Literatur und ihrer Funktion. Den<br />

einen interessiert sie, weil sie Waffe im Klassenkampf ist oder doch<br />

sein kann (Pehlke, 407), während der andere gegen einen Literaturbegriff<br />

polemisiert, der „von der Literatur Veränderung der gesellschaftlichen<br />

Praxis erwartet", und meint: „Soweit sie (die Literatur,<br />

K. H. G.) in ihrer Geschichte des politischen Engagement sich angenommen<br />

hat, war es ein denkbar abstraktes . . . oder es verpflichtete<br />

sie auf die partikularen Zwecke einer politischen Partei, was sie zu<br />

einem Propagandainstrument einer Sache außer ihr herabsetzte"<br />

(Glaser, 346). Hier zeigt sich, daß selbst die Gegnerschaft zur herrschenden<br />

Literaturwissenschaft keine durchgehende Eigenschaft der<br />

präsentierten Texte ist. Daß der Dichter, wie Freiligrath es einmal<br />

formulierte, auf einer höheren Warte als auf den Zinnen der Partei<br />

steht — vor allem der Partei, die in ihrem Kampf schließlich das<br />

Gesamtinteresse der Menschheit vertritt — ist seit mindestens 100<br />

Jahren wichtiger Bestandteil des ideologischen Waffenarsenals der<br />

Germanistik. Selbst die der Lebensphilosophie entlehnte literaturwissenschaftliche<br />

Methode des intuitiven Einfühlens und nacherlebenden<br />

Verstehens, die die interpretatorische Willkür „weniger Aus-

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