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Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Abriß einer Analyse literarischer Produktion 231<br />

nissen gefesselt war, übernehmen konnten, waren die deutsche<br />

Klassik und die Philosophie des deutschen Idealismus. Unter anderem<br />

wegen des Fehlens akuten politischen Kampfs konnten diese<br />

manches von dem — freilich nicht ohne Verzerrung — weiterdenken,<br />

was von den französischen Klassenkämpfen immerhin als<br />

geistiger Anstoß herübergekommen war.<br />

Zu unterscheiden ist in der Literaturtheorie nun jeweils die Fähigkeit<br />

zur Vorwegnahme einzelner ästhetischer Mittel, wie sie spezialistische<br />

Tätigkeit und Disproportionen in den Produktionsverhältnissen<br />

verschiedner Bereiche erlauben, von der — damit freilich verbundenen<br />

— zur Antizipation von Problemlösungen; diese mögen<br />

sich auf die nächste geschichtliche Stufe, aber auch auf ein weiter<br />

vorausliegendes Ziel beziehen. Wo eine solche Antizipation reale<br />

Möglichkeiten überspringt oder, was <strong>für</strong> die Beurteilung natürlich<br />

entscheidend ist, überspringen muß, um bereits produzierten und<br />

artikulierbaren, aber in nächster Zukunft nicht erfüllbaren Bedürfnissen<br />

abzuhelfen, läßt sich das am phantastisch-vagen, im schlechten<br />

Sinn utopischen Charakter der Vorstellungen ablesen 89 . Der ästhetischen<br />

Analyse zeigen sich in diesen Fällen Brüche in den literarischen<br />

Mitteln, wie es Lukàcs <strong>für</strong> den Schluß des Wilhelm Meister, Adorno<br />

<strong>für</strong> Hölderlins Hymnen demonstrierte.<br />

<strong>Das</strong> Fischer-Lexikon „Literatur" schreibt unterm Stichwort Utopie:<br />

„In poetischer Konkretisierung entwirft sie eine ideale Gesellschaftsordnung.<br />

Dies geschieht als Selbstzweck 87 ." In dieser Formulierung<br />

ist ideologisch genützt, daß der Versuch einer Versöhnung<br />

im ästhetischen Schein ambivalent ist: unklar kann sein, ob ein Werk<br />

das Dargestellte fordert oder als Abbild eines schon Gelungenen ausgibt<br />

und damit, bloßer Ersatz, die reale Veränderung sabotiert.<br />

Überdies ist es die fatale Dialektik von Bildern der Erfüllung, daß<br />

sie eben dadurch, daß sie in ihrer Konkretheit nicht prognostisch<br />

fundiert sein können, sondern aus vorhandenen Erscheinungen konstruiert<br />

sind, jetzige und herzustellende Verhältnisse zu eng aneinander<br />

binden 88 . <strong>Das</strong> utopische Modell verkommt dann leicht zur<br />

Spielart einer Futurologie, die ihre Entwürfe bei aller Innovation<br />

im einzelnen dem Wesen der bestehenden Produktionsweise anpaßt;<br />

wo sie, wie Belletristik meist, nicht zur detaillierten Vorhersage<br />

neigt, wird solche Literatur die bloß romantische Ergänzung des<br />

86 Cf. dazu MEW Bd. 4, S. 143; MEW Bd. 7, S. 346; MEW Bd. 20, S. 247.<br />

87 <strong>Das</strong> Fischer Lexikon, Literatur II, Frankfurt/M. 1965 ff., S. 590.<br />

88 Von der Spekulation heißt es in der Heiligen Familie, daß sie „einerseits<br />

scheinbar frei ihren Gegenstand a priori schafft, andererseits aber,<br />

eben weil sie die vernünftige und natürliche Abhängigkeit vom Gegenstand<br />

wegsophistisieren will, in die unvernünftigste und unnatürlichste<br />

Knechtschaft unter den Gegenstand gerät [...] (MEW Bd. 2, S. 63). Vom<br />

utopischen Sozialismus sagt Marx, daß „dieser doktrinäre Sozialismus im<br />

Grunde nur die jetzige Gesellschaft idealisiert, ein schattenloses Bild von<br />

ihr aufnimmt und sein Ideal gegen ihre Wirklichkeit durchsetzen will<br />

[...] (Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, MEW<br />

Bd. 7, S. 89).

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