Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Abriß einer Analyse literarischer Produktion 227<br />
ken, welche die Ergebnisse eines solchen ungleichmäßigen Nebeneinander<br />
arglos in sich versammeln, ergeben sich Widersprüche: so<br />
bei Hans Sachs etwa, der sich der Stoffe der damaligen Weltliteratur<br />
bediente, angesichts der geringen Ausbildung der ihm zur Verfügung<br />
stehenden Sprache und Technik jene aber oft einer Ausführung<br />
unterwarf, die unfreiwillig komisch wirkt. Wo Inhomogenität sich<br />
auch nach der Einbeziehung der verschiedenen Momente in einen<br />
übergreifenden Zusammenhang hartnäckig erhält oder gar verstärkt,<br />
offenbart sie tieferliegende Antagonismen. Abgesehen von<br />
Gegensätzen, die sich notwendig aus dem Gegenstand ergeben, geht<br />
es hierbei um solche Produktionsbedingungen der Literatur und<br />
Kunst, die die ästhetische Aneignung des Gegenstands und seiner<br />
Widersprüche verhindern oder sachfremd beeinflussen: man denke<br />
an die Spaltung in E- und U-Kunst, an die ungleiche Entwicklung<br />
von literarischen Gattungen, die wie Lyrik und Drama, Film und<br />
Fernsehen in unterschiedlicher Weise dem Profitkalkül oder der politischen<br />
Aufsicht unterstehen, aber auch an Kontraste von Produktion<br />
und Reproduktion, so wenn hochqualifizierte Interpreten sich an<br />
Schund versuchen müssen, und solche wie den zwischen konventioneller<br />
Story und aparter Dialogführung innerhalb von Produkten,<br />
etwa in neueren Kriminalserien des Fernsehens und Erfolgsromanen.<br />
In Fällen, wo Diskrepanzen innerhalb künstlerischer Produkte nicht<br />
einfach der Anpassung an wenig vernünftige Arbeitsbedingungen<br />
oder Wirkabsichten entspringen, signalisieren sie häufig Widersprüche<br />
in den Produzenten selber. Unpassende Textwahl von Komponisten,<br />
falsche Vorschläge von Dramatikern bei Bühnen- und<br />
Filminszenierungen, das — wie Adorno es nannte — Anlegen „rückwärtiger<br />
Verbindungslinien" nach avantgardistischen Produktionen<br />
zeigen an, daß die Künstler als Gesamtpersonen mit dem Entwicklungsstand<br />
in ihrem Spezialbereich oft nicht mitkamen. Hanns Eisler<br />
berichtet, Schönberg habe ihm erklärt, „im Gegensatz zu anderen,<br />
natürlich nur wenigen, finde er seine Werke mitunter scheußlich<br />
klingend. Nachdem er sie niedergeschrieben habe, verstehe er sie<br />
nur noch schwer und müßte sie mühsam studieren 70 ". Mit einer Kluft<br />
zwischen Traum- und Wachzustand oder ähnlichem hat das nichts zu<br />
tun, sondern damit, daß durch Künstler vielfach der Riß zwischen<br />
der herrschenden Ideologie und Praxis und ihrer Kunst nochmals<br />
hindurchgeht 71 : als Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft ist<br />
ihnen selber suspekt, wozu die konsequente Verfolgung ihrer spezialisierten<br />
Tätigkeit sie gebracht hat <strong>72</strong> .<br />
Damit ist jene Möglichkeit angesprochen, die Marx als die des<br />
„unegalen Verhältnisses der Entwicklung der materiellen Produk-<br />
70 Nach Hans Bunge, Fragen Sie mehr über Brecht. Hanns Eisler im<br />
Gespräch. München 1970, S. 177.<br />
71 Cf. Th. W. Adorno, Dissonanzen, Göttingen 1956, S. 140.<br />
<strong>72</strong> „Goethe wie Hegel", schreibt Engels im selben Sinn, „waren jeder<br />
auf seinem Gebiet ein olympischer Zeus, aber den deutschen Philister<br />
wurden beide nie ganz los" (F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang<br />
der klassischen deutschen Philosophie, MEW Bd. 21, S. 269).