Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Abriß einer Analyse literarischer Produktion 223<br />
wortung in der bürgerlichen Gesellschaft gern von Ideologien der<br />
Originalität und Spontaneität verdunkelt wurde 67 . Hervorgerufen<br />
wurden diese vom objektiven Schein der absoluten Freisetzung des<br />
Individuums, der mit der Aufhebung der persönlichen Abhängigkeiten<br />
des Feudalsystems durch bürgerliche Verkehrsformen entstand.<br />
Auch <strong>für</strong> den Schriftsteller trat an die Stelle persönlicher Bindung<br />
die indirektere Abhängigkeit vom Markt. Zu gewissen Zeiten und in<br />
gewissem Umfang ließ ihm dieser, eines besonderen, mit dem Autorinteresse<br />
nicht gänzlich unvereinbaren Publikumsinteresses wegen,<br />
a.uch in der Tat größeren Spielraum. Die Betonung von Individualität<br />
und Originalität, von Anfang an nicht nur einfaches Abbild der<br />
neuen Verhältnisse, sondern Kritik und Kompensation der jetzt<br />
erfahrenen sachlichen Abhängigkeiten, verstärkte sich, befördert vom<br />
Konkurrenzkampf der Autoren; nach Arnold Hausers Darstellung<br />
erschien das Originalgenie erst, als jener Kampf sich Ende des<br />
18. Jahrhunderts verschärfte. Von noch später datiert der ins Religiöse<br />
gesteigerte Geniebegriff: <strong>Das</strong> Genie erhielt Stellvertretungscharakter,<br />
nachdem die reale Entwicklung den Vielen die aus der<br />
Zirkulationssphäre phantasmagorisch hervorleuchtende Freiheit und<br />
Gleichheit nicht gebracht hatte. <strong>Das</strong> Bild des Dichters bekam, nicht<br />
unähnlich dem des „freien Unternehmers", die Funktion, den entmachteten<br />
Individuen vor allem des Kleinbürgertums die Möglichkeit<br />
von Kreativität und Autonomie innerhalb der gegebenen Verhältnisse<br />
vorzugaukeln. Der auch im literarischen Bereich wirksame<br />
Zwangszusammenhang des Wertgesetzes, die tatsächliche Stellung<br />
des Künstlers in der Gesellschaft wurde dabei ebenso verdeckt wie<br />
die überindividuellen Bedingungen, die zur Ausbildung seiner Arbeitskraft<br />
nötig sind. Verzerrt wurde im selben Zug auch die Rolle<br />
der Subjektivität im literarischen Arbeitsakt selber; diese ist in<br />
Wahrheit dort, wo nicht bloß falsches Bewußtsein vergegenständlicht<br />
wird, alles andere als selbstherrlich 58 . Schon der vorliterarische<br />
Zweck ist nicht bloß der des Künstlersubjekts als eines individuellen,<br />
sondern eines durch die — wesentlich von der Klassenordnung bestimmten<br />
— Sozialisation geprägten — von Auftragsverhältnissen<br />
und Wirkungsplanung einmal ganz abgesehen; noch die privateste<br />
Èigenart aber gelangt zur Konkretisierung als Gestaltungsabsicht nur<br />
über die literarischen Mittel, in denen das Individuum wiederum<br />
kollektive Erfahrungen ergreift. Der subjektive Zweck verwirklicht<br />
sich nur, wenn er sich der Problemfigur stellt, die das Material ausdrückt;<br />
diese läßt Lösungen nur innerhalb einer gewissen Variationsbreite<br />
zu. Während der ganzen Arbeit ist der Produzent nun dem so<br />
zustande gekommenen Zweck unterworfen: dieser ist es, „der die Art<br />
57 Als exemplarisch vergleiche man etwa den Aufsatz von Werner<br />
Mahrholz, Die Wesenszüge des schriftstellerischen Schaffensprozesses, in:<br />
Die geistigen Arbeiter, 1. Teil, ed. Ludwig Sinzheimer, München und<br />
Leipzig 1922, S. 58—73.<br />
58 Cf. hierzu in Hegels Ästhetik das Kapitel „Der Künstler", a.a.O.,<br />
S. 274 ff.