Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Romanistik und Anti-Kommunismus 297<br />
kehrte er nicht mehr nach Deutschland zurück, wo man im übrigen<br />
wohl audi nicht sonderlich interessiert an einer eventuellen Rückkehr<br />
war. Der gehetzte und gedemütigte Victor Klemperer aber<br />
fragte im Gegensatz zu den untadeligen Lichtgestalten Vossler und<br />
Curtius nach der Schuld, an der er vielleicht teilgehabt hätte: „Vielleicht<br />
hatte vordem auch ich zu oft DER Deutsche gedacht und DER<br />
Franzose, statt an die Mannigfaltigkeit der Deutschen und Franzosen<br />
zu denken? Vielleicht war es Luxus und Egoismus gewesen, sich nur<br />
in die Wissenschaft zu vergraben und der leidigen Politik aus dem<br />
Weg zu gehen 97 ?" Man vergleiche diese Sätze mit der selbstgefälligen,<br />
ichbezogenen Lehrmeister-Attitüde des philosophischen Dilettanten<br />
und politischen Reaktionärs Curtius 98 , und man wird verstehen,<br />
warum dieser zum zweifelhaften Wissenschaftsidol in der,<br />
BRD wurde, jener aber beim Aufbau des neuen Deutschland in der<br />
DDR mitarbeitete 99 : „Ich habe in der gräßlichen Schule der Hitlerzeit<br />
vieles um- und nachgelernt", schreibt Klemperer 1956, „das<br />
kaum noch erhoffte Geschenk des Überlebens habe ich als Verpflichtung<br />
zum Dienst am Neuaufbau empfunden 10 °."<br />
Von allen Romanisten hatte Werner Krauss den schärfsten Blick:<br />
in seinem Aufsatz Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag von<br />
1950 lenkte er das helle Licht des Marxismus auf die bürgerliche<br />
Ideologie der vorgeblich interesselosen Wissenschaft und führte mit<br />
97 LTI. Die unbewältigte Sprache, dtv 575, München 1969, 285.<br />
98 Mit welcher Verachtung dieser Lehrmeister <strong>für</strong> sein eigenes Volk<br />
begabt war, kann man folgendem Zitat entnehmen (Rückblick 1952, 1. c.,<br />
525): „<strong>Das</strong> deutsche Volk spielte die Republik 1925 Hindenburg in die<br />
Hände — man weiß, mit welchem Erfolg —, und in eben diesem Jahr<br />
warb ich <strong>für</strong> Proust, Valéry, Larbaud." Ja, hätten die Mülionen deutscher<br />
Arbeiter nur seine Interpretation von Proust, Larbaud und Valéry gelesen,<br />
statt SPD oder KPD zu wählen, dann wären die Nazis bestimmt<br />
nicht an die Macht gekommen: die weinerliche Larmoyance und der elitäre,<br />
Zynismus sind offensichtlich ein Charakteristikum deutscher Geisteswissenschaftler<br />
auch heute noch. K. O. Conrady untersteht sich, die Bereitschaft<br />
der reichsdeutschen Germanistik zur nahezu totalen „Gleichschaltung"<br />
im Nazi-Reich folgendermaßen zu erklären : „Verfemt von den nach .<br />
längst überholten Prinzipien verfahrenden Siegermächten, bedrängt von<br />
wirtschaftlicher Sorge, verwirrt durch die labüen parlamentarischen Verhältnisse<br />
der jungen Republik, verzweifelnd am Experiment der Freiheit<br />
... [usw.] ... in allem ausgesetzt [!] dem Schicksal einer ,verspäteten Nation':<br />
da [!] glaubten manche, den Überzeugungsparolen [!] des Völkisch-<br />
Nationalen folgen zu müssen, und waren überzeugt, gut und richtig zu<br />
handeln." (Deutsche Literaturwissenschaft und Drittes Reich in Germanistik<br />
— eine deutsche Wissenschaft, edition suhrkamp, Bd. 204, 71—109,<br />
86—87): „verfemt" — die deutschen Germanistik-Professoren! „bedrängt<br />
von wirtschaftlicher Sorge" — ausgerechnet die Ordinarien! „verzweifelnd<br />
am Experiment der Freiheit", das sie nachweislich in ihrer überwältigenden<br />
Mehrheit von Anfang an sabotiert hatten, usw.: da hat Curtius sich<br />
und die Lehrmeister seiner Sorte, die die Republik verspielten!<br />
99 Cf. H. Heintze, In memoriam Victor Klemperer, Beiträge zur romanischen<br />
Philologie, 1961, 8—16.<br />
100 V. Klemperer, vor 33/nach 45, Berlin 1956, Vorwort.