Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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220 Bernd Jürgen Warneken<br />
Der Begriff der Technik enthält dabei keine mechanistische Vorstellung<br />
von literarischer Produktion, sondern meint die freie Verfügung<br />
über die Mittel im Unterschied zum quasi handwerklichen Schreiben<br />
gemäß einer Regelästhetik 47 ; vor allem wendet er sich dagegen,<br />
literarische Schaffensweisen nur als Ausdruck von Künstlerpersönlichkeiten,<br />
als deren persönlichen Stil aufzufassen 478 . Seine zentrale<br />
Rolle auch bei der Interpretation von Literatur rechtfertigt sich nur<br />
dadurch, daß hier Technik — anders als etwa „technique" im New<br />
Criticism — nicht bloß als Beherrschen der Form, als äußerliche<br />
Ausführung aufgefaßt wird 48 . Gehandhabt und beurteilt werden<br />
darf sie nur in der Beziehung aufs Material. Dies aber ist selber<br />
nicht formal zu fassen, sondern Rohmaterial im genauen Sinn: nämlich<br />
durch frühere Arbeit filtrierter Arbeitsgegenstand, also vergegenständlichte<br />
geistige Wirklichkeitsaneignung. Insofern ist es<br />
möglich, noch in den abstraktesten künstlerischen Arbeitsmitteln<br />
Bedeutung wahrzunehmen, wie es Adorno <strong>für</strong>s musikalische Mittel<br />
der Dissonanz demonstrierte: „Als Ausdruck von Spannung, Widerspruch<br />
und Schmerz sind die Dissonanzen entstanden. Sie haben sich<br />
sedimentiert und sind zum .Material' geworden. Sie sind nicht länger<br />
Medien des subjektiven Ausdrucks. Aber sie verleugnen darum doch<br />
ihren Ursprung nicht. Sie werden zu Charakteren des objektiven<br />
Protests 4 ®." Auch die literarischen Formen sind durchsetzt von solchen<br />
geronnenen, gleichwohl mit der geschichtlichen Entwicklung<br />
sich wandelnden Bedeutungen; diese sind deshalb wichtig, weil nicht<br />
ein Problem, ein Stoff der äußeren Realität literarisch bloß aufbereitet<br />
wird, sondern dieses Reale nur in den literarischen Mate-<br />
47 Cf. a.a.O., S. 316.<br />
47a Cf. Brecht, Werke Bd. 19, S. 287.<br />
48 Lukâcs' Angriff gegen eine „Verengung der Probleme der eigentlichen<br />
Kunst auf die der Schreibtechnik" (G. L., Essays über Realiismus,<br />
a.a.O., S. 381 f.) ist nur durch einen restringierten Technikbegriff zu erklären.<br />
Dieser freilich entspricht so sehr der herrschenden Praxis, daß es zu<br />
billig ist, Vorwürfe wie den Lukâcsschen nur immer mit dem der Inhaltsästhetik,<br />
d. h. mit dem mangelnder Erkenntnis der Formvermitteltheit<br />
des ästhetischen Gehalts zu kontern. In der gegenwärtigen Bildungsrefarm<br />
z. B. treten Konzepte auf, welche die gesellschaftliche Bedeutung<br />
dessen offenbaren, was sich in der Literatur als Formalismus zeigt und als<br />
solcher oft nur unter wiederum ästhetischen Gesichtspunkten diskutiert<br />
wurde. Für den Unterricht, insbesondere den Deutschunterricht, wird zur<br />
Vorbereitung auf ein Berufsleben mit hoher Mobilität und ohne die<br />
Chance, über die Meisterung komplizierter Apparaturen und Situationen<br />
hinaus Arbeitszwecke mitzureflektieren und mitzubestimmen, ein Formalprogramm<br />
ohne Funktionsbezug empfohlen: Ziel ist ein flexibles Rollenspiel<br />
und eine entsprechende Kommunikationsgeschicklichkeit, <strong>für</strong> welche<br />
Übungen in der sog. formal debate, der Erzähl-, Rede- und Lesetechnik<br />
vorgesehen sind, die konkrete Gehalte und Interessen ausklammern.<br />
Cf. dazu Literatur ifa Studium und Schule, Loccumer Kolloquien 1, ed. Olaf<br />
Schwencke, Loccum 1970, insbes. 1—23; auch Kursbuch 24, insbes. S. 33 ff.<br />
und 113 ff.<br />
49 Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Ffm. 1958, S. 84.