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Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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354 Besprechungen<br />

verkehr von freien und gleichen Privateigentümern zur Voraussetzung<br />

hat, er verkennt jedoch sowohl den Charakter der bürgerlichen<br />

Gesellschaft als audi den Charakter der bürgerlichen Literatur.<br />

<strong>Das</strong> bürgerliche Individuum entstehe mit der kapitalistischen<br />

Gesellschaftsform, die dadurch gekennzeichnet sei, daß in ihr „alle<br />

Produkte menschlicher Tätigkeit die Form von Waren angenommen<br />

haben" (103). Die kapitalistische Produktionsweise ist jedoch nicht<br />

primär dadurch charakterisiert, daß in ihr alle Produkte menschlicher<br />

Tätigkeit Warenform annehmen — was im übrigen nicht<br />

stimmt —, sondern dadurch, daß die Arbeitskraft <strong>für</strong> den Arbeiter<br />

selbst die Form einer ihm gehörigen Ware, seine Arbeit daher die<br />

Form von Lohnarbeit erhält. Andererseits verallgemeinert sich erst<br />

von diesem Augenblick die „Warenform der Arbeitsprodukte" (Kapital,<br />

Bd. I, MEW Bd. 23, S. 184). Völker hingegen spricht dort, wo<br />

ihm — natürlich unter dem Gesichtspunkt einer als Entäußerung<br />

gefaßten Entfremdung — die kapitalistische Produktionssphäre<br />

überhaupt einmal in den Blick gerät, unter Berufung auf ein Marx-<br />

Zitat von 1844 davon, daß der Mensch selbst im Kapitalismus Warenform<br />

bekäme. Ob aber der Mensch oder die menschliche Arbeitskraft<br />

Warenform annehmen, macht immerhin den Unterschied zwischen<br />

Lohnarbeiter und Sklave aus. Man sieht hier die verhängnisvollen<br />

Folgen einer Fundierung der Gesellschaftstheorie auf den Marxschen<br />

Frühschriften. Wenn Völker einmal kein Zitat finden kann, das Marx<br />

noch nicht auf dem Stand seiner späteren Einsichten zeigt, geht er,<br />

um seine Revision des Marxismus als marxistisch ausgeben zu können,<br />

zu grotesken Fehlinterpretationen über. Steht in den „Grundrissen",<br />

daß in der kommunistischen Gesellschaft „die disponsable<br />

time das Maß des Reichtums" sein wird, so interpretiert Völker<br />

daraus: „ . . . die freie Entfaltung des Individuums außerhalb des<br />

direkten Arbeitsprozesses wird zur einzigen Grundlage des gesellschaftlichen<br />

Reichtums" (123). Die Beispiele wären beliebig zu vermehren.<br />

Marxistische <strong>Theorie</strong> wird von Völker zum Nonsens heruntergewirtschaftet:<br />

„Die Notwendigkeit des Menschen, sich am Leben<br />

zu erhalten . . . . hängt ab vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte"<br />

(103).<br />

Die Folgen von Völkers methodologischem Ausgangspunkt <strong>für</strong> die<br />

Bestimmung der Literatur sind nicht weniger falsch: Ursache aller<br />

Kunst sei der „Zwiespalt von möglich gewordener Bedürfnisartikulation<br />

und Produktionsverhältnissen, die deren Befriedigung verhindern"<br />

(95, auch 102, 111, u. a.), ihre Aufgabe bestehe darin, die Entfremdung<br />

des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft zu dokumentieren<br />

(108), bestehe in der Aufforderung, die Bedürfnisse zu<br />

verwirklichen (115), in der Darstellung der „Erwartung einer jetzt<br />

möglich gewordenen Befreiung" (111). Vor diesem, Freud entlehnten,<br />

aber als originär marxistisch ausgegebenen Literaturbegriff erweise<br />

sich „Sozialistischer Realismus und eine auf ihn gegründete Literaturwissenschaft<br />

. . . als marxistisch nicht legitimierbar" (125), weil<br />

er von der Darstellung des Tatsächlichen und nicht des Utopischen<br />

ausginge. In dieser Trennung von Wirklichem und Möglichem liegt

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