Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Abriß einer Analyse literarischer Produktion 213<br />
in der streng konzentrierten einheitlichen Handlung des Romans<br />
künstlerisch äußert 28 ." Der Idee des durchkonstruierten Werks folgend,<br />
verlangte Lessing, der Dichter solle „aus [...] wenigen Gliedern<br />
[...] ein Ganzes machen, das völlig sich rundet, wo eines aus<br />
dem andern sich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt,<br />
deretwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern<br />
sie außer ihm [•..] suchen müssen [...] 24 ". <strong>Das</strong> in der literarischen<br />
Technik auftauchende Prinzip der kausalen Erklärung und<br />
Verknüpfung, der Zerlegung und Synthese — der Entwicklung des<br />
Ganzen aus einem Einzelelement heraus ebenso wie die einheitliche<br />
Organisation aller Parameter eines Werks — ist unschwer als<br />
Ausdruck der Rationalisierung zu dechiffrieren, welche in der bürgerlichen<br />
Gesellschaft zunehmend den Produktionsprozeß, aber auch<br />
die Arbeitsweise in anderen Praxisbereichen durchdringt. Daß Literatur<br />
aber auch dem zuwiderlaufende, irrationale Methoden und vor<br />
allem Gehalte aufweist, zeigt an, daß sie eben nicht materielle Arbeitsprozesse,<br />
sondern Erscheinungen der kapitalistischen Produktionsweise<br />
als Ganzer wiedergibt, von der nun einmal gilt, daß „die<br />
steigende Organisation der Produktion [...] im einzelnen Produktionsetablissement"<br />
die aus der privaten Aneignung der Produkte<br />
resultierende „Anarchie in der gesellschaftlichen Produktion [steigerte]<br />
26 ". Wo sich demnach heute Rationalisierung in der Literatur<br />
über bloß äußerliche oder sonst partikulare Stimmigkeit hinaus<br />
durchsetzt, bedeutet dies objektiv einen — wenn auch an der Realität<br />
und ihren Möglichkeiten entsprungenen — Widerstand gegen das<br />
Chaos einer sich quasi naturgesetzlich vollziehenden Gesamtbewegung.<br />
Spricht man, wie hier, der Literatur eine Bedeutung in der Entwicklung<br />
intellektueller wie psychischer Fähigkeiten der Wirklichkeitserfahrung<br />
und -gestaltung zu, wirkt sich dies auf die Diskussion<br />
möglicher Spannungen zwischen der Kommunikationsfunktion der<br />
Literatur und ihrer um prompte Verständlichkeit relativ unbekümmerten<br />
Fortentwicklung aus, die in der anarchischen und körperliche<br />
streng von geistiger Arbeit trennenden bürgerlichen Gesellschaft<br />
entstehen müssen. Avantgardistische Werke sind unter diesen Bedingungen<br />
nicht vorschnell der selbstgenügsamen Esoterik zu bezichtigen.<br />
Die Unterwerfung der Literaturproduktion unter die gesellschaftliche<br />
Arbeitsteilung, wie immer diese Teilung bisher die<br />
Male der Klassenspaltung trug, war die Bedingung ihrer Entfaltung,<br />
ähnlich wie diese Art der Arbeitsteilung in der materiellen Produktion<br />
notwendig war, um — wenn auch in keineswegs linearer Weise<br />
— die verschiedenen Fertigkeiten der Produzenten und damit die<br />
23 Georg Lukâcs, Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten, Neuwied<br />
und Berlin 1964, S. 376.<br />
24 G. E. Lessing, Werke Bd. 5, ed. J. Petersen und W. v. Olshausen,<br />
Wien/Stuttgart 1925, S. 329.<br />
25 Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft,<br />
MEW Bd. 19, S. 216.