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Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Abriß einer Analyse literarischer Produktion 221<br />

rialien und Techniken, die allesamt gesellschaftlichen Abbildcharakter<br />

haben, erscheint. Im Arbeitsprozeß hat der Autor seine Mittel<br />

dementsprechend auszuwählen, angemessen zu funktionalisieren und<br />

den Materialstand da, wo er den zu bewältigenden Aufgaben nicht<br />

mehr entspricht, über sich hinaustreiben 50 .<br />

Die Notwendigkeit, sich ihrer Historizität bewußt zu sein, bezieht<br />

sich natürlich nicht nur auf die literarischen Arbeitsinstrumente,<br />

sondern auch auf die Wirklichkeitsmaterialien von Literatur, den<br />

Stoff, der in seiner Fassung als „Thema" bereits Rohmaterial und<br />

damit Bestandteil dieser Mittel geworden ist. Für diesen Gegenstand<br />

gilt wie <strong>für</strong> den direkten literarischen Arbeitsgegenstand, der sich<br />

ja auf ihn bezieht, daß der Arbeitende seine Gesetzmäßigkeiten zu<br />

beachten hat, wenn die Produktion nicht scheitern soll. Geschichte<br />

und Gegenwart geben kein Agglomerat von Tatsachen ab, die von<br />

einem selbstherrlich schaltenden Subjekt als Steinbruch benutzt<br />

werden könnten und erst durch Einfühlung zum Leben zu erwecken<br />

wären; ein gesellschaftlicher Zusammenhang ist ihnen vielmehr<br />

schon inhärent. Verstöße dagegen beginnen schon bei scheinbaren<br />

Kleinigkeiten: So verletzte es zu Recht Hegels geschichtsphilosophischen<br />

Takt, daß in Vossens „Luise" Kaffee und Zucker eine große<br />

Rolle spielen, Produkte, die nach Hegel in den geschlossenen Kreis<br />

der Idylle nicht passen, da sie „sogleich auf [...] eine fremdartige<br />

Welt und deren mannigfache Vermittlungen des Handels, der Fabriken,<br />

überhaupt der modernen Industrie hinweisen 51 ".<br />

Insbesondere bei Literatur ist es nicht müßig, auch <strong>für</strong> die in ihr<br />

dargestellte subjektive und objektive Natur festzuhalten, daß sie,<br />

wenn auch keine gesellschaftliche Kategorie, so doch durch Arbeit<br />

geschichtlich vermittelt ist. Wo bürgerliche Literatur, auf der Flucht<br />

vor dem leidensvollen Entwicklungsprozeß der gesellschaftlichen<br />

Beziehungen, weniger explizit soziale Sujets als, wie man es auffaßte,<br />

innere Gefühle des Individuums oder ein direktes Bezugsverhältnis<br />

von Mensch und Natur darstellte, ergab sich die im Fetischismus<br />

der Ware fundierte Ideologie der Übergeschichtlichkeit und<br />

Unmittelbarkeit sozialer Verhältnisse wie von selbst. Verdeckt blieb,<br />

daß auch „die Gegenstände der einfachsten ,sinnlichen Gewißheit'",<br />

50 Demnach kann der Hinweis, daß jedes Stilmittel per se Sinn enthalte<br />

und somit gesellschaftliche Inhalte von ihm nicht erst ergriffen<br />

werden müßten, nicht genügen. Vielmehr ist von den betreffenden Bedeutungen<br />

zu verlangen, daß sie in ihrem Ensemble zum — freilich nicht<br />

szientivischen — Urteil zusammentreten und dies Urteü konkreter Wirklichkeit<br />

und Möglichkeit nicht widerstreitet. Die These, daß nicht literarisch<br />

und gesellschaftlich einzelnes, sondern nur beider Zusammenhang<br />

korrelieren müsse, ermöglicht schlechte Abstraktheit erst dann, wenn vergessen<br />

wird, daß Totalität nicht jenseits ihrer Momente, sondern nur durch<br />

sie hindurch existiert. So wenig eine bestimmte Stoffwahl den Wert eines<br />

Werks verbürgt, so wenig lassen sich die geschichtlich wesentlichen Erfahrungen<br />

an beliebigen Gegenständen machen.<br />

51 G. W. F. Hegel, Ästhetik, ed. Friedrich Bassenge, Frankfurt/M. o.J.,<br />

Bd. I, S. 257.

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