Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Zum Stand der Trivialliteratur-Forschung 237<br />
Für diesen Leser tauchen mit Vorliebe negativ besetzte Bezeichnungen<br />
auf wie „die Menge", „der Massenmensch" oder Ausdrücke<br />
pädagogisch gefärbter Überheblichkeit wie „das Publikum" (b 164),<br />
„der grundschichtige Leser" (b 162) oder „der erlösungsbedürftige<br />
Massenmensch" (Hodeige, zitiert b 158). Die ästhetische Abwertung<br />
im literarischen und die pädagogisch gefaßte Diskriminierung der<br />
Trivialliteratur und ihrer Leser im sozialen Bereich lassen sich erklären<br />
aus der von den Apologeten des Systems unbewußt empfundenen<br />
Angst, die Lektüre könnte dysfunktionales Verhalten im durch Ausbeutung<br />
gekennzeichneten Arbeitsprozeß hervorrufen. Denn ein<br />
drogenartiger Dauerkonsum, ein dauerndes Verweilen im wirklichkeitsfernen<br />
ideologischen Weltbild könnte die Frustration deutlicher<br />
fühlbar machen und Widerstand wecken. Bei dem Wechselverhältnis<br />
zwischen Wirklichkeit und Fiktion ist wichtig zu bedenken, daß meist<br />
die Trivialliteratur nicht das einzige in diese Richtung gehende<br />
Massen-Medium ist. Selbstverständlich empfindet der Leser die<br />
Handlung eines Heftromans als nicht real, als erfunden. Trotzdem<br />
erscheinen ihm die dort selbstverständlich herrschenden Wertvorstellungen<br />
als Teil der Wirklichkeit und werden somit zur Forderung,<br />
die er an die eigene Umgebung heranträgt. Gefördert wird<br />
dies durch die nach denselben Mustern und Vorstellungen stilisierten<br />
Berichte von Prominenten in den Illustrierten, wo es sich ja<br />
dann tatsächlich um existierende Personen handelt 4 . Eine Kontrolle<br />
der Vorstellungen, die sich z. B. in Heiratsanzeigen artikulieren,<br />
erweist u. a., daß es tatsächlich die bürgerlich-idealistischen Wertvorstellungen<br />
in von der Werbung beeinflußter Klischeeform sind,<br />
wie sie in den Erzeugnissen der Trivialliteratur herrschen. Beim<br />
derzeitigen Charakter der westdeutschen Trivialliteraturproduktion<br />
ist die Gefahr, diese Literatur könnte zu einem Artikulationsmedium<br />
<strong>für</strong> wirkliche Interessen der Lohnabhängigen werden, aber sehr<br />
gering. In der Geschichte der Massenkultur kam es allerdings vor, daß<br />
die Angst berechtigt war, wie z. B. im Frühstadium der Entwicklung<br />
des Kinos. Dagegen hatte sich damals die herrschende'Klasse dadurch<br />
gewehrt, daß sie dem Kino eine drogenartig suggestive Wirkung<br />
zuschrieb, die schädlich <strong>für</strong> die Massen sei. In Verbindung mit<br />
Gustave Le Bons Massenbegriff war damit die Möglichkeit geschaffen<br />
worden, durch die Zensur auch politisch auf die Entwicklung des<br />
Films so einzuwirken, daß er bald nicht mehr-Artikulationsmedium<br />
des Proletariats war®.<br />
4 Im Gefolge der von der Zeitschrift „konkret" zuerst veröffentlichten,<br />
dann zu einem gut verkäuflichen Artikel gewordenen „Sexpolprotokolle"<br />
— in der „Neuen Revue" wurden sie dann zum „Ehrlichen Interview" —<br />
gibt es jetzt schon eine Reihe Heftromane mit dem Serientitel „Wahre<br />
Bekenntnisse". Hier kann verfolgt werden, wie das Bedürfnis, das Weltbild<br />
der Trivialliteratur auf die Wirklichkeit übertragen zu dürfen, selbst<br />
zum Gegenstand kommerzieller Ersatzbefriedigung in der Fiktion geworden<br />
ist.<br />
5 Vgl. Dieter Prokop: Soziologie des Films. Neuwied und Berlin 1970,<br />
2. Teil I, Kapitel 3.