Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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210 Bernd Jürgen Warneken<br />
auch auf Literatur anzuwenden 8 . Wie der „[moderne Materialismus]<br />
gegenüber der naiv-revolutionären, einfachen Verwerfung aller frühern<br />
Geschichte [...] in der Geschichte den Entwicklungsprozeß der<br />
Menschheit [sieht] 8 ", so faßt er die Entwicklung der literarischen<br />
Arbeit als Moment der Selbsterzeugung des Menschen. Die ästhetische<br />
Produktion insgesamt ist eine der Formen der Vergegenständlichung<br />
des produzierenden Subjekts, d. h. umgekehrt eine sich weiterentwickelnde<br />
Aneignung der Objektwelt durch den Produzenten,<br />
beides wird vom Leser in durchaus nicht nur rezeptiver Konsumtion<br />
nach- und mitvollzogen. Für die subjektive Seite heißt das, daß<br />
Literatur an der Ausbildung der geistig-kulturellen Fähigkeiten des<br />
Menschen teilhat. Wie dieser in der konkreten Arbeit, nach Marx'<br />
Darstellung, dadurch, daß er auf die äußere Natur wirkt und sie<br />
verändert, zugleich seine eigene verändert und die „in ihr schlummernden<br />
Potenzen" entwickelt 10 , so hilft literarische Arbeit, ihn als<br />
„möglichst bedürfnisreichen, weil Eigenschafts- und Beziehungsreichen"<br />
11 herauszubilden: „. . . die Vergegenständlichung des<br />
menschlichen Wesens, sowohl in theoretischer als praktischer Hinsicht,<br />
gehört dazu [...], um <strong>für</strong> den ganzen Reichtum des menschlichen<br />
und natürlichen Wesens entsprechenden menschlichen Sinn zu<br />
schaffen 12 ." In der Ausdrucksweise der Kritik der politischen Ökonomie:<br />
„Die Produktion liefert dem Bedürfnis nicht nur ein Material,<br />
sondern sie liefert dem Material auch ein Bedürfnis[...]. Der Kunstgegenstand<br />
— ebenso jedes andere Produkt — schafft ein kunstsinniges<br />
und schönheitsgenußfähiges Publikum. Die Produktion produziert<br />
daher nicht nur einen Gegenstand <strong>für</strong> das Subjekt, sondern<br />
auch ein Subjekt <strong>für</strong> den Gegenstand 18 ."<br />
8 Wenn die Momente des literarischen Arbeitsprozesses als „literarische<br />
Produktivkräfte" zusammengefaßt werden, da sich ein andrer Begriff<br />
nicht anzubieten scheint, ist von vornherein festzuhalten, daß hier<br />
nicht von Produktivkräften im strengen Sinn der Politischen Ökonomie<br />
die Rede sein kann. Weder ist damit gemeint, daß literarische Produktivkräfte<br />
heute stets solche des Kapitalverwertungsprozesses sind, ihre<br />
Betätigung also produktive Arbeit ist, noch gehorchen sie an dieser Stelle<br />
der Definition, die im unmittelbaren materiellen Produktionsprozeß wirkenden<br />
Faktoren zu sein. Wenngleich ein erhöhter Vergesellschaftungsgrad<br />
der Produktion den Geltungsbereich des Produktivkräftebegriffs ausdehnt<br />
und auch Literatur systematisch zur Ausbildung der menschlichen Fähigkeiten<br />
und damit zur Verbesserung der Arbeitsproduktivität herangezogen<br />
werden kann, wäre es doch nur terminologisch verschleierter Idealismus,<br />
deshalb sie selbst, <strong>für</strong> sich, als gesellschaftliche Produktivkraft zu bezeichnen.<br />
9 Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft,<br />
MEW Bd. 19, S. 207.<br />
10 Marx, <strong>Das</strong> Kapital Bd. I, MEW Bd. 23, S. 192.<br />
11 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin/DDR<br />
1953, S. 312.<br />
12 Marx, ökonomisch-philosophische Manuskripte..., a.a.O., S. 542.<br />
13 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a.a.O., S. 13 f.