Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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298 Michael Neriich<br />
Karl Marx den Beweis, daß der Mensch als das „ensemble der gesellschaftlichen<br />
Verhältnisse" auch als Wissenschaftler in der Wissenschaft<br />
und mit der Wissenschaft gesellschaftlich, d. h.: politisch handelt<br />
101 . Scharf hob sich sein Bekenntnis zum historischen Materialismus<br />
als Beitrag im Kampf <strong>für</strong> eine bessere Welt, als Beitrag im<br />
Klassenkampf ab vom ideologischen Einheitsbrei der Kultur- und<br />
Geisteswissenschaftler, die wieder einmal mehr den Ton angaben.<br />
Und natürlich: in dem Teil Deutschlands, der sich per Währungsseparierung<br />
(„Währungsreform"), Separat-Staatsgründung und Wiederaufrüstung<br />
um die deutsche Einheit „verdient" machte 102 , in der<br />
BRD also, blieb seine Stimme so gut wie ohne Echo, seine Ideen so<br />
gut wie undiskutiert 103 . So hoch war bereits die geistige Mauer,<br />
deren Grundsteine Vossler und Curtius und die Generation von<br />
Kurt Wais (und nicht nur dieser allein!) aus der eigenen Vergangenheit<br />
geholt hatten. 1945 erhielt Werner Krauss, dessen Todesstrafe<br />
in letzter Minute in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt worden<br />
war 104 , seinen ersten Ruf an die Universität Marburg. Im gleichen<br />
Jahr trat er ein in die Kommunistische Partei Deutschlands.<br />
Zwei Jahre später folgte er einem Ruf nach Leipzig: rechtzeitig genug,<br />
um durch das heute noch gültige Verbot der KPD, das in der<br />
nichtfaschistischen Welt im übrigen einmalig ist, nicht wieder zum<br />
Verfolgten zu werden und aus der Illegalität unter Hitler in die<br />
Illegalität unter Adenauer zu gelangen. Heute würde der einzige<br />
lebende deutschsprachige Romanist von Weltrang zwar noch nicht<br />
wieder in der Illegalität leben müssen, aber von der Universität<br />
bliebe er ausgesperrt.<br />
Von den Fachkollegen in der BRD, denen durch die Herausbildung<br />
der zwei unterschiedlichen Gesellschaftssysteme in der BRD und in<br />
der DDR und durch die Unterdrückung von Marxismus und Kommunismus<br />
in der BRD die Mühe einer Auseinandersetzung mit dem<br />
historischen Materialismus (durchaus zum Nachteil der Wissenschaft)<br />
„erspart" blieb, hätte er wahrscheinlich nicht viel Unterstützung zu<br />
erwarten. Betrachtet man im Rückblick die romanistische Forschung<br />
der letzten 25 Jahre in der BRD und in Westberlin, so kann man<br />
zwar nicht umhin, manche beachtliche Einzelleistung (zu der auch<br />
die eine oder die andere Herausgebertätigkeit zu rechnen ist) anzuerkennen<br />
und sogar zu bewundern, einen nachhaltigen, richtungsweisenden<br />
Eindruck aber kann man nirgends erhalten. <strong>Das</strong> Dilemma<br />
wird bei einem Blick auf die numerisch zwar vorhandenen, wissenschaftstheoretisch<br />
jedoch weitgehend unprofilierten „Schulen" der<br />
verschiedenen Forscherpersönlichkeiten deutlich. Von einer eigent-<br />
101 Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag, 1. c., 70—71.<br />
102 Cf. das Zeugnis Fritz Erlers aus der Bundestagsdebatte über die<br />
Wiederaufrüstung in der BRD in Deutsche Parlamentsdebatten, ed. cit.,<br />
Bd. III.<br />
103 Cf. H. R. Jauß, Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft,<br />
1. c., 53.<br />
104 Cf. K. Barck/M. Naumann/W. Schröder, Literatur und Gesellschaft,<br />
1. c., 561—562.