Das Argument 72 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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300 Michael Neriich<br />
Werkes bedeutungslos, sie sieht nur gesellschaftliche Dokumente. Es<br />
gelingt ihr so, bisher ungenügend beachtete gesellschaftliche Verflechtungen<br />
von Trobadorlyrik und höfischem Roman zu erhellen.<br />
Verdächtig [sie!] wird sie, wo sie diesem Faktor alleinbestimmende<br />
Geltung zuerkennt 108 ." Dahinter steht H. G. Tuchel nicht zurück, der<br />
mitteilt: „Mithin neigt der Leser [!] zunächst (obschon die soziologische<br />
Perspektive bei der Betrachtung solcher Phänomene wie Trobadorlyrik<br />
und höfischer Roman im Grunde seit Jahrzehnten nicht<br />
völlig unbekannt ist und meist mit angewandt wurde, wenngleich<br />
nicht so dogmatisch — ausschließlich und abstrakt — konstruierend<br />
wie im vorliegenden Buch) zu <strong>kritische</strong>r Vorsicht.. . 109 ."<br />
Den Ton <strong>für</strong> diesen pamphletischen Stil der Besprechungen von<br />
Köhlers Arbeiten hatte allerdings 1957 bereits Fritz Schalk angeschlagen,<br />
der in seiner Besprechung von Köhlers Aufsätzen über das<br />
Je ne sais quoi und Der Padre Feijôo und das no sé qué dem damaligen<br />
Privatdozenten Köhler (der ein Jahr später nach Heidelberg berufen<br />
wurde) ungewöhnlich grob über den Mund fuhr: „Im 17. Jahrhundert<br />
aber — und wieder spricht der Verfasser [Köhler] große<br />
Worte gelassen aus — ist das je ne sais quoi ,der irrationale Rest<br />
eines Denkens, das aus der Bodenlosigkeit der kulturtragenden<br />
Schicht im Bann des Absolutismus den ideologischen Fluchtraum<br />
zum Ausweis der eigenen Einzigartigkeit umgestaltet'. Solange solche<br />
Sätze aber nicht aus einer detaillierten soziologischen Analyse<br />
bewiesen werden", konstatiert der Anti-Soziologe Schalk, „erscheinen<br />
sie nur als der weltanschauliche Rest einer nicht richtigen Philosophie,<br />
und ich glaube, man wird uns nicht zumuten, Descartes, Pascal,<br />
Bossuet, Fénelon in ideologische Fluchträume anzusiedeln 110 ."<br />
Wer dieses kollektive „Wir" ist, dem man eine wissenschaftliche Erkenntnis<br />
oder Hypothese nicht „zumuten" kann, ist schwer zu sagen.<br />
Schwer ist überhaupt die Diskussion: nicht nur der aggressive Ton<br />
macht sie nahezu unmöglich — der Anti-Marxismus, der sich nur als<br />
Paraphrase zu benennen wagt, die Schwierigkeiten im Umgang mit<br />
marxistischem Vokabular (wie dem Begriff der „Ideologie") und vor<br />
allem die Wiederbelebung der anti-„jüdisch-sozialistischen" Terminologie<br />
von Curtius im Wort „soziologistisch" kommen hinzu: „Wenn<br />
Bossuet in seiner Politique tirée de l'Ecriture Sainte schreibt: Je ne<br />
sais quoi de divin s'attache au prince et inspire la crainte du peuple,<br />
so schreibt er nicht als Ideologe, sondern er glaubt, daß die königliche<br />
Macht von Gottes Gnaden ist und tadelt jedes gouvernement arbitraire.<br />
Dem Verfasser [Köhler] liegt aber eine Analyse der religiösen<br />
Erfahrung aus ihren Voraussetzungen so fern, daß er selbst Pascal<br />
nür soziologistisch zu betrachten vermag m . "<br />
Köhler antwortete dezidiert, aber korrekt in Esprit und arkadische<br />
Freiheit (Frankfurt/M.-Bonn 1966, 280—286), das in der bundesdeut-<br />
108 Zeitschrift <strong>für</strong> Romanische Philologie, 1964, 386—392, 396: Rezension<br />
von Köhlers Trobadorlyrik und höfischer Roman, Berlin 1962.<br />
109 Romanische Forschungen, 1963, 414—423, 415: Trobadorlyrik.<br />
110 Romanische Forschungen, 1957, 210—213, 212.<br />
111 Ib.